Die inneren Grenzen
Näher kommen sich Polen und Deutsche durch den Schengenbeitritt nicht Als wir an den Grenzposten in Frankfurt/Oder Richtung Polen heranfahren, sehen wir bereits die deutsche Beamtin und den polnischen Grenzwächter alle vor uns fahrenden Autos durchwinken. Einen Tag vor dem offiziellen Schengen-Beitritt Polens lassen die es mit den Kontrollen also bereits sein, denken wir. Doch die Dame in Uniform greift sich unsere Pässe, der zwei Meter große Grenzwächter geht mit versteinerter Miene um unseren Wagen herum. Also doch eine Durchsuchung, unsere erste in mehr als zehn Jahren regelmäßiger Grenzübertritte –und eigentlich die letzte, die uns hier passieren kann. Ausgerechnet wir werden herausgepickt, dabei haben wir rein gar nichts zu verstecken und müssen gleich den mühsam gestopften Wagen entleeren. Der polnische Beamte greift energisch nach dem Außenspiegel und klappt ihn wieder auf; wir waren 450 Kilometer durch Deutschland mit einem zugeklappten gefahren. Mit eingeschränkter Sicht. Danke für die Hilfe, denken wir – und lachen uns gegenseitig an. Dann werden wir durchgewunken, die Pässe kriegen wir wieder, ohne dass jemand einen Blick hinein geworfen hätte. Otwartosc = Offenheit
Da tritt ein Land, gemeinsam mit acht anderen, einem europäischen Grenzabkommen bei. Das bedeutet im Kern, dass an den Grenzen zwischen den beteiligten EU-Staaten grundsätzlich keine Kontrollen mehr stattfinden. Als eine Entbürokratisierung könnte man dies bezeichnen, als Erleichterung für den europäischen Binnenverkehr, als Stärkung der Waren- und Touristenströme, auch der von Arbeitskräften. Noch einige plausible Argumente ließen sich hier aufzählen. Rationale. Richtige.Es war nachweislich nicht das Ziel von Schengen, Symbolik in den Vordergrund zu rücken, der Geschichte ein neues Kapitel der friedlichen Annäherung abzutrotzen oder Völkerverständigung im engeren Sinne des Wortes zu betreiben. Das Abkommen ist ein zutiefst rationales Gebilde – in seiner eigentlichen Zielsetzung. Es hat zudem verheerende Folgen, zumeist an den immer dichter abgeschotteten Außengrenzen der Union, wo viele Flüchtlinge an den höher werdenden Grenzfestungen ihr Leben lassen. Diese tragische Seite von Schengen wird hier nicht beleuchtet, obgleich sie nach wie vor aktuell ist und leider bleiben wird.Spricht man in Deutschland über die Risiken von Schengen, wird meist ans eigene Land gedacht, sowohl an den Stammtischen als auch auf politischer Ebene. Von weiteren Schmuggelgeschäften ist die Rede, von Menschenhändlern, illegalen Arbeitssuchenden, arbeitslosen und frustrierten Grenzwächtern und versetzten Zollbeamten, von Lohndumping und Millioneninvestitionen an den Ostgrenzen. „Gefahr“ schwingt da häufig mit, „Bedrohung“ wird zumindest gedacht.Doch auch mögliche Chancen bleiben nicht unerwähnt. Neben den bereits genannten Vorteilen wird auch eine Europäisierung der nationalen Gesellschaften der alten und neuen EU-Länder erhofft, ein Zusammenrücken des alten Kontinents, der sich im letzten Jahrhundert noch selbst zerfleischt hatte, auf dem fehlgeleitete Moderne und sich über alles erhöhender Mythos Moral und Menschlichkeit tödlich überrollten. Und nein, auch die diesem Grenz-Auflösungsprozess innewohnende Symbolik wird nicht verschwiegen, sie wird betont: bei offiziellen Festreden, in EU-Gremien, von zivilgesellschaftlichen Akteuren, die sich der Völkerverständigung, diesem unmöglichen Unterfangen, verschrieben haben. „Ich bin kein polnischer Staatsbürger und habe keinen europäischen Pass“, sagt ein Tscheche freudestrahlend in der Nacht zum 21. Dezember in eine Fernsehkamera am polnisch-tschechischen Grenzübertritt in der geteilten Grenzstadt Cieszyn, „doch heute, heute fühle ich mich wie ein Bürger der Union.“ Viele feiern also – aber was feiern sie eigentlich? Przeszkody = Hürden
Wirklich näher rücken sich die Menschen Deutschlands und Polens nicht. Töricht zu glauben, Grenzübertritte ohne Pass-Überprüfung würden eine tatsächliche Annäherung verschiedener Gesellschaften stärker befördern als geregelt kontrollierte. Das Problem sind nicht die durchlässigen Grenzen, die notwendigen Pässe und noch nicht einmal die physischen Distanzen, die zwischen den Bewohnern der Nachbarstaaten liegen. Es sind vielmehr die Grenzen in den Passinhabern selbst, die von den Einzelnen errichtet werden – wenn auch nicht immer bewusst. Regelmäßig scheitern Deutsche mit mustergültigen Papieren an ihrem eigenen, inneren Grenzwächter namens Überlegenheit. Eigentlich finden viele Deutsche Polen, das Land wie die Menschen, sympathisch, warmherzig, gastfreundlich – aber lernen müssen die Polen dann eben doch noch so einiges. Da erläutert etwa der Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Klaus-Dieter Lehmann, kühl und nüchtern, man müsse den Polen „erklären“, die in Krakau befindliche Kunstsammlung Berlinka könne nicht in Sippenhaft genommen werden für die von Deutschen zerstörten polnischen Kultur- und Kunstschätze. Dieses widerspreche internationalen Konventionen. Da ziehen deutsche Medien über die Kaczynski-Brüder her – häufig berechtigt – und schmeißen in ihrer Kritik alle polnischen politischen Vorstöße in einen Hau-Drauf-Topf. Die Quadratwurzel-Formel wird als absurd verrissen, ohne dass zugleich die dann logischerweise noch wesentlich absurdere Zähl- und Stimmgewichtung des deutschen Bundesrates auch nur erwähnt würde. Da gibt es eine Debatte um die Geschichte eines „sichtbaren Zeichens“ in Deutschland, einer Gedenkstätte gegen Vertreibungen. Von einem wirklichen Dialog mit der polnischen Seite ist aber nur wenig zu spüren, das unter Ex-Kulturstaatsministerin Kristina Weiss angestrebte Europäische Netzwerk scheint eingeschlafen. Respekt = Respekt
Diese inneren Grenzen schmerzen. Dabei muss man sich eigentlich über die passlose Zukunft zwischen Polen und Deutschland freuen: Welch ein Ereignis, es fällt eine Grenze zwischen zwei Nationen, deren gemeinsame Geschichte so unendlich viel Leid hervorbrachte. Viele ältere Menschen können es kaum fassen, dass sie dies noch erleben. Sie haben ganz andere Erinnerungen im Kopf als Politiker, die gemeinsam Grenzschranken aushebeln. Sie staunen über knallende Leuchtfeuer, die keinen Krieg einleiten. Wenig lässt sich über diese Dimension von Schengen sagen, ohne pathetisch zu werden. Zugleich muss man sich herausgefordert fühlen in nahezu jeder Begegnung, in jeder breiteren Diskussion über die Nachbarländer, in der es um Grundsätzliches geht: um den aufrichtigen Willen, stereotype Bilder zu vervollständigen, um das Anerkennen anderer, komplexer Perspektiven, um die Begegnung auf Augenhöhe, schlicht: um gegenseitigen Respekt. Peter Bender bringt die deutsch-polnischen Beziehungen seit 1989 in der politischen Zeitschrift „Blätter für deutsche und internationale Politik“ auf den Punkt: „Die Deutschen empfanden meist gar nicht, was die Polen verletzte. Doch unbewusste Arroganz kann schlimmer sein als gewollte Demütigung. Gegen Bösartigkeit kann man kämpfen, Gleichgültigkeit macht hilflos.“ An seiner Aussage stimmt eigentlich nur die verwendete Zeitform nicht: Man müsste weiter im Präsens sprechen. Freilich, auch die Polen tragen das Ihre zum Unverständnis bei. Denn Stolz auf die eigene Nation und Geschichte mischt sich in ihrem Land mit einer Ungläubigkeit ob des eigenen Stellenwertes in der Welt, im neuen und alten Europa. Beides vermischt sich zu einer turbulenten Melange, und die Effekte sind für Außenstehende unvorhersehbar und unbegreiflich, wie etwa das Phänomen Kaczynski. Vieles, was die Deutschen an Polen nicht verstehen, fällt zudem unter die Kategorie Irrationalität. Die Polen scheinen tief durchdrungen von dem Bewusstsein, in entscheidenden Momenten eben nicht rational zu handeln. Das hat seine Ursachen wohl nur zu einem geringen Teil in der immer noch starken Religiosität. Vor allem steht dahinter eine geschichtliche Entwicklung, in der häufig genug – wie Don Quijote gegen die Windmühlen – die Polen gegen Okkupanten und Unrecht kämpften. In Polen gibt es dafür das Bild des Reiters mit Lanze, der gegen den stählernen Panzer stürmt. Meist ist man damit gescheitert, manchmal aber auch nicht. Der letzte dieser Reiter war Präsident Lech Kaczynski, der in Brüssel gegen fast alle Länder für eine bessere Stellung für Polen focht. Die Art und Weise wie er das tat, wurde auch in Polen kritisiert, nicht aber der Kern seiner Forderungen. In Deutschland und anderen westlichen Ländern trug dies zu Unverständnis und Empörung bei. Und eben auch zu neuen Mauern. Denn fallen die einen Grenzen, bauen sich wie automatisch andere auf; faktische Diskrepanzen und unwirkliche Fremdbilder zwischen den Mitgliedern führen dazu, neue, innere Grenzen zu markieren – oder alte zu festigen. Und für diese bräuchte man ein ganz eigenes Schengen. Als wir die Grenzposten, die uns am letzten offiziellen Kontrolltag durchwinken hatten, nach ihrer Zukunft fragen, lachen sie. Es würden ja nicht die Grenzen abgeschafft, sondern lediglich die grundsätzlichen Kontrollen, sagt der polnische Beamte. Man würde stichprobenartig weiter kontrollieren, nur eben an anderen Stellen – in den beiden Ländern selbst. Etwas weiter hinten, im Innern. ENDE