Livland wächst zusammen
Für ein Städtchen an der estnisch-lettischen Grenze ist der Beitritt zum Schengen-Raum eine Erlösung.Ein Waldweg im südlichen Estland: Wo sich früher Fuchs und Hase gute Nacht sagten, herrscht statt der üblichen Stille emsiger Betrieb. Die Mitarbeiter der estnischen Straßenbaubehörde "Maanteeamet" haben noch alle Hände voll zu tun - in ein paar Tagen, am 21. Dezember, treten Estland und Lettland dem Schengenraum bei. Dann kann die Grenze zwischen den beiden baltischen Staaten an jedem Ort und zu jeder Tages- und Nachtzeit ungehindert und ohne Personenkontrollen überschritten werden. Zuletzt war dies 1990 in den letzten Tagen der Sowjetunion möglich.
Tasu Prangli, ein Mitarbeiter der Straßenbaubehörde, will die Schotterpisten von den Ortschaften Krabi, Luutsnik und Rammuka in Richtung Lettland sogar für Autos passierbar machen, und da gibt es eine Menge zu tun. "Fast siebzehn Jahre waren die Wege von Gräben durchzogen, inzwischen sind sie von Gestrüpp überwuchert", stellt Krangli fest. "Aber bis zum 21. Dezember wollen wir zusammen mit den Kollegen in Lettland so weit sein, dass hier Pkw fahren können." Spätestens dann sollen auch die gelben Schilder mit der Aufschrift "Seis - Eesti piir" (Stopp - Estnische Grenze) fallen.
Das estnische Innenministerium hat schon begonnen, Versteigerungen für die Liegenschaften entlang der Grenze auszuschreiben, darunter für die Grundstücke am größten Grenzübergang Ikla/Ainaži. "Die Gebäude an den Kontrollstellen werden abgerissen", verkündet Merle Küngas, eine Mitarbeiterin des Innenministeriums. Die lettische Seite plant ähnliche Maßnahmen. Estnisch und Lettisch sind sprachgeschichtlich gesehen ungefähr so eng verwandt wie Deutsch und Türkisch, nämlich überhaupt nicht. Aber trotz der Sprachgrenze war die politische Teilung lange Zeit nur wenig ausgeprägt. Über Jahrhunderte hinweg bildeten der Süden Estlands und der Norden Lettlands die von den Deutschen gegründete und später vom Russischen Zarenreich beherrschte Provinz Livland. Erst 1918 teilten die beiden neu entstandenen Staaten das Gebiet entlang der Sprachgrenze zwischen sich auf.
Während der Sowjetzeit 1940/41 sowie von 1944 bis 1991 spielte diese ohnehin junge Grenze kaum eine Rolle, wurde dann aber rasch wieder mit Gräben, Wällen und teilweise sogar mit Zäunen befestigt - sehr zum Leidwesen vieler Anwohner. Das Überschreiten war nur noch an einigen Kontrollpunkten erlaubt, so dass Landwirte nicht mehr direkt auf ihre Felder gelangen konnten und Reisende Umwege in Kauf nehmen mussten. Und es gab sogar Straßen, die zu Estland gehörten, während die anliegenden Häuser schon auf lettischem Territorium standen. Entsprechend groß ist nun die Erleichterung bei den Menschen, denn für sie wächst zusammen, was zusammengehört.
Blick vom estnischen Valga auf die lettische Seite der Stadt (Valka). / Berthold Forssman, n-ost
Besonders deutlich ist die Freude im estnischen Valga zu verspüren. Die Stadt mit ihren gut 15.000 Einwohnern hat nämlich eine Besonderheit aufzuweisen: Sie hat auf der lettischen Seite eine Zwillingsstadt, das rund 6.500 Einwohner zählende Valka. Über 600 Jahre lang gab es hier nur eine Stadt, das 1286 zum ersten Mal erwähnte Walk im Herzen Livlands. Bei der Aufteilung der Provinz wurde Walk zum Zankapfel zwischen Estland und Lettland. Da keine Seite auf ihre Ansprüche verzichten wollte, wurde die Stadt auf Empfehlung einer internationalen Kommission unter der Führung des Briten Stephen George Tallents entlang eines Bachs in das estnische Valga und das lettische Valka geteilt. Zu Sowjetzeiten waren die beiden Hälften faktisch wieder eine Stadt, und 1991 versicherten die Regierungen Estlands und Lettlands einander, unmittelbar nach dem Fall der Berliner Mauer nicht wieder eine europäische Stadt teilen zu wollen.
Aber die Hauptstädte Tallinn und Riga waren weit von Valga/Valka entfernt. Die Staaten entwickelten sich unterschiedlich rasch, oft genug preschte Estland voran. Die EU mahnte zwar eine Einheit des Baltikums an, machte dann aber zunächst nur Estland das Angebot zur Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Entsprechend wurde die Grenze zu Lettland gesichert, da diese im Fall einer alleinigen Mitgliedschaft Estlands eine EU-Außengrenze geworden wäre. Die Leidtragenden waren die Menschen in Valga/Valka: Zwar gab es keine bis an die Zähne bewaffneten Grenzsoldaten, keine Wachtürme und keinen Schießbefehl. Aber ein hässlicher Zaun entlang des Bachs teilt seit 1991 die Stadt - oft genug in Anlehnung an Asterix als "Der große Graben" verlästert. Für Fußgänger stehen bis heute lediglich zwei Grenzübergänge in der Stadt zur Verfügung, Autofahrer müssen eine Kontrollstelle außerhalb des Stadtzentrums passieren und der Zugverkehr ist vollständig zum Erliegen gekommen.
Wer also die Gräber seiner Verwandten auf dem Friedhof am anderen Ende der Stadt besuchen will, muss einen Ausweis zücken. Ein Telefonat über die Straßenseite hinweg wird zum Auslandsgespräch und wer zufällig einen Job in der anderen Stadthälfte hat, benötigt eine Arbeitserlaubnis. Wer gar das Pech hat, im lettischen Valka schwer zu erkranken, wird nicht im wenige hundert Meter entfernten Krankenhaus von Valga behandelt, sondern in die lettische Kreisstadt Valmiera gebracht. Der EU-Beitritt Estlands und Lettlands hat gewisse Erleichterungen mit sich gebracht, und schon lange pflegen die Menschen einen gesunden Pragmatismus. Fußballvereine beider Stadthälften kicken in denselben Sportstätten. Wenn in Estland Nationalfeiertag ist, kommen die Bläser der lettischen Musikschule zur Verstärkung und umgekehrt.
Trotzdem wird das Ende dieses Zustands sehnlich erwartet. Dann kann man künftig rasch dort einkaufen, wo es billiger ist oder die Läden länger geöffnet haben. Zigaretten beispielsweise sind in Estland deutlich teurer als in Lettland, während die Letten Wurst, Käse und Kaffee bevorzugt in Estland kaufen.Pünktlich am Morgen des 22. Dezember wollen die beiden Stadthälften wieder eine gemeinsame Buslinie einrichten. Da die Einführung der europäischen Gemeinschaftswährung Euro auf sich warten lässt, hat man sich auch hier eine praktische Lösung ausgedacht: Die Bustickets können sowohl in estnischen Kronen als auch in lettischen Lat gelöst werden. Natürlich soll die Linie einige ganz besonders wichtige Punkte verbinden, und die benennt Valgas Vizebürgermeister so: "In Valga fährt der Bus erst zum Bahnhof, dann zum Krankenhaus, in Valka durchquert die Linie das Zentrum und endet am Einkaufszentrum."