Mordaufklärung mit Hindernissen
Am 12. Dezember wird der Prozess gegen die fünf jungen Männer fortgesetzt, die im April 2007 in der südost-anatolischen Stadt Malatya drei protestantische Christen der Freiheitskirche grausam ermordet haben sollen. Eines der Opfer war der Deutsche Tilman Geske. Vor Beginn des zweiten Prozesstages fällt ein tiefer Schatten auf die Verhandlung: Für die Ermittlungen wichtige Videoaufnahmen sind verschwunden oder unbrauchbar. Eine von der Polizei einen Tag vor den Morden beschlagnahmte Pistole gelangte auf ungeklärte Weise in den Besitz der Angeklagten zurück. Mit dieser Waffe soll der 19-jährige Emre Günaydin den Pastor der Gemeinde der protestantischen Freiheitskirche von Malatya, Necati Aydin, den deutschen Bibelforscher Tilman Geske und den erst vor zwei Jahren zum Christentum konvertierten Ugur Yüksel am 18. April im Büro des religiösen Zirve-Verlages bedroht und seine Komplizen Abuzer Yildirim und Salih Gürler veranlasst haben, die Christen zu fesseln und zu knebeln.
Was dann genau geschah, soll der Prozess klären. Die Polizei fand die Opfer am Nachmittag mit durchschnittenen Kehlen. Ihre Körper waren durch Messerstiche verstümmelt worden. Der mutmaßliche Anführer der Täter, Emre Günaydin, versuchte aus dem Fenster des dritten Stockes zu klettern, stürzte auf die Strasse und verletzte sich schwer. Einen Monat später gestand Günaydin bei der ersten Vernehmung durch die Polizei von Malatya die Planung und Ausführung der Tat. Die drei Tatverdächtigen hatten sich Anfang des Jahres unter dem Vorwand, sich für das Christentum zu interessieren, in die protestantische Gemeinde eingeschlichen. Unklar ist, ob sie dabei von Beginn an ein Verbrechen planten.
Einiges deutet darauf hin, dass es sich ähnlich wie im Fall des ermordeten türkisch-armenischen Journalisten Hrant Dink nicht um die Einzeltaten verblendeter Jugendlicher handelt. Der Herausgeber der Wochenzeitung Agos war am 19. Januar 2007 vor dem Redaktionsgebäude in Istanbul von dem Jugendlichen Ogün Samast erschossen worden. Auch im Dink-Prozess verschwanden zentrale Beweismittel, zum Beispiel die Aufzeichnung einer Überwachungskamera, die die Tat zufällig filmte. Im Krankenzimmer von Emre Günaydin wurde nach der Tat ebenfalls eine Überwachungskamera installiert. Dies diente als Sicherheitsmaßnahme. Die Aufnahmen könnten allerdings beim Prozess auch wichtige Hinweise über Hintermänner liefern. Ein Teil der Aufnahmen verschwand jedoch, der Rest ist ohne Ton. Angesichts der Tatsache, dass Günaydin zehn Tage lang im Krankenhaus lag, ist ein reiner Bedienungsfehler höchst unwahrscheinlich.
Ein an den Dachverband der protestantischen Freiheitskirche in Ankara gesendeter anonymer Brief benennt drei mutmaßliche Anstifter aus dem Kreis der Sicherheitskräfte. Einer davon ist der für die Kameraüberwachung im Krankenhaus zuständige Leutnant Hüseyin I., ein anderer sein Vorgesetzter Mehmet Ü., Kommandant der auch für polizeiliche Ermittlungen im Anti-Terror-Kampf zuständigen paramilitärischen Jandarma von Malatya. Nicht zu erklären ist ebenfalls, wie die von der Polizei einen Tag vor den Morden beschlagnahmte Pistole in den Besitz von Emre Günaydin zurückgelangen konnte. Die drei tatverdächtigen jungen Männer wurden am 17. April von einer Streife kontrolliert, weil sie auf einem freien Gelände mehr als 30 Schüsse "zu Übungszwecken" abgaben. Da keiner einen Waffenschein besaß wurde die Waffe beschlagnahmt, einen Tag später jedoch bei dem Überfall auf den Verlag als Tatwaffe benutzt.
Der Tatverdächtige Abuzer Yildirim sagte bereits kurz nach seiner Festnahme aus, Emre Günaydin habe gute Kontakte zum Polizeiapparat unterhalten und von dort auch Informationen über die christliche Gemeinde erhalten. Tatsächlich haben Polizeistellen ganze Aktenordner voller Informationen über die christliche Gemeinde gesammelt, die im Prozess nun auch als Beweismaterial dienen. Die Ordner beweisen, dass die Protestanten jahrelang bespitzelt wurden. Es ist vom "Tatbestand der christlichen Propaganda" die Rede. Die Tatsache, dass ein solches Delikt im türkischen Strafrecht nicht existiert, suggeriert stark, dass es sich hier um Alleingänge der Sicherheitskräfte handelt.
Die große Frage ist, ob es gelingt diese Hintergründe aufzudecken. Die türkische Regierung hat Inspektoren nach Malatya entsandt und der Vorsitzende der parlamentarischen Menschenrechtskommission wird morgen den Prozess beobachten. Die Aufklärung der Morde von Malatya und des Attentates auf Hrant Dink nehmen eine Schlüsselstellung im Demokratisierungsprozess der Türkei ein. Der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan sprach im Sommer von mafiotischen Strukturen im Sicherheitsapparat und der Staatsbürokratie. Bereits seit den 70er Jahren instrumentalisiert die sogenannte "Kontra" Ultranationalisten und Radikal-Islamisten als potentielle Attentäter, um die politische Situation in der Türkei zu destabilisieren. Momentan torpedieren diese Kreise auch die türkischen Bemühungen um einen EU-Beitritt. Offenbar mit Erfolg. Die EU spricht mittlerweile von Gesprächen, nicht mehr von "Beitrittsgesprächen" mit der Türkei.