Bosnien-Herzegowina

Besuch in "Klein-Jerusalem"

Der Taxifahrer ist ratlos. "Die Synagoge?" Über das knarzende Funkgerät fragt er in der Zentrale nach, die hat einen Tipp. Es geht durch Grbavica - das Serbenviertel, das dem Film von Jasmila Žbanic den Namen gab, der 2006 auf der Berlinale den Goldenen Bären gewann. Grbavica, das sind graue, heruntergekommene Neubauten mit Einschusslöchern in den Fassaden. Das Taxi windet sich durch enge Gassen, immer am Hang entlang. "Synagoge!" Der Fahrer zeigt auf einen kleinen jüdischen Friedhof. "Nein?" Der zweite Versuch gelingt. Das Taxi hält vor der Synagoge im maurischen Stil in der Innenstadt. Die Pförtnerloge ist leer. Sicherheitskontrollen? Fehlanzeige. Im Eingang wartet Jakob Finci.

Der kleingewachsene Jurist ist der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde. Er steigt eine kleine Treppe hinauf, öffnet mit einem großen Schlüssel die knarzende Tür zum Gebetsraum. Finci zeigt auf die Verzierungen im Mudéjar-Stil. "Diese Synagoge wurde 1902 gebaut, hier sehen Sie die Original-Ornamente", sagt der 64-Jährige. "Es wurde nichts verändert". Nicht einmal der Bürgerkrieg Anfang der 90er Jahre konnte dem Gebäude etwas anhaben. "Ein kleiner Schaden am Dach und am Gemeindehaus, sonst nichts", erklärt Finci. Er zeigt aus dem Fenster auf den Hügel gegenüber. "Dort oben saßen die Serben". Warum die Synagoge so wenig in Mitleidenschaft gezogen wurde? Der Gemeindevorsitzende hat dafür eine naturwissenschaftliche Erklärung: "Das war einfach ein schlechter Winkel für die Granatwerfer."

Die Juden von Sarajevo seien gut auf den Bürgerkrieg vorbereitet gewesen, der von 1992 bis 1995 in Bosnien tobte, erzählt Finci. Durch die Belagerung der südkroatischen Stadt Dubrovnik kurze Zeit zuvor wussten sie, was man zum Überleben braucht: Medikamente, haltbare Lebensmittel wie Reis und Bohnen - und Papiere. In Sarajevo lagen während des Krieges zehnmal mehr Anträge auf Ausreise nach Israel vor als in Friedenszeiten, insgesamt wollten 500 Leute die begehrten Papiere. "Wenn die Juden die Stadt verlassen, ist das ein schlechtes Zeichen", orakelte 1992 die Zeitung Oslobodenje. "Vielleicht haben wir Juden einen Überlebensinstinkt, der uns seit 2000 Jahren am Leben hält", meint Jakob Finci. Er organisierte im Krieg unter Lebensgefahr Hilfstransporte. Und er sorgte dafür, dass 1000 Juden die Stadt verlassen und ins Ausland flüchten konnten. Die Medikamente, die er für die eigenen Leute nicht mehr benötigte, verteilte Finci an Bedürftige. Die jüdische Hilfsorganisation La Benevolencija betrieb gegen Ende des Krieges drei Apotheken in der Stadt.



Der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Jakob Finci / Stephan Ozsváth, n-ost

"Hier im Gemeindezentrum haben wir auch eine Schule organisiert", sagt Finci und deutet in den Raum, dessen einziger Schmuck ein paar Stühle und die kleine Bar sind. "Mit einem Generator haben wir einen Videorecorder betrieben, so dass wir Videos einschalten konnten", erinnert sich der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde. "Schon nach zwei Wochen fragten die ersten: Kann ich auch meinen besten Freund mitbringen? Und so haben wir die Schule weiterbetrieben. Mit 20 Juden und 30 Freunden." Die jüdische Gemeinde während des Bürgerkriegs muss eine Oase gewesen sein im Kriegsalltag, der von Tod, Hass und so genannten ethnischen Säuberungen geprägt war. Die Botschaft, die Finci und seine Helfer den Kindern damals mitgeben wollten: "Es ist nicht wichtig, welcher Volksgruppe Du angehörst, sondern was Du für ein Mensch bist."

Es ist Freitagabend. Im Eingang zum jüdischen Gemeindezentrum warten vor allem alte Männer. Zwei Drittel gehören zur Generation 50 Plus. "Das ist unser größtes Problem", sagt Jakob Finci. "In den letzten dreieinhalb Jahren haben wir 40 Mitglieder begraben, aber nur ein jüdisches Baby ist geboren", klagt er. Der freundliche David Camhi nickt zustimmend. Der 71-jährige Geiger stammt aus einer alteingesessenen jüdischen Familie in Sarajevo. Seine Muttersprache ist "Ladino", das Spanisch der Sepharden - der Juden, die 1492 aus Spanien vertrieben wurden. Es ist ein vorklassisches Spanisch aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Camhi rezitiert eine uralte Romanze. Darin beklagt sich eine junge Frau bei der Mutter: "Ich habe zwei Geliebte, für wen soll ich mich entscheiden?"

Camhi lacht verschmitzt. Ein bisschen wie der jungen Frau in der Romanze gehe es auch den Juden von Sarajevo. "Wir haben mit allen Volksgruppen hier gute Beziehungen: Mit den Bosniaken, den Serben und den Kroaten. Das hat uns gerettet", erzählt Gemeindevorsitzender Finci. Antisemitismus? Finci und Camhi wiegeln ab. Das sei hier kein Thema, bestätigt auch der junge Shlomo Goldstein Mesic, der eigentlich aus Tuzla stammt, aber jetzt in Wien lebt. "Ich kann hier mit meiner Kippa herumlaufen", sagt der junge Mann und zeigt auf seinen Kopf, "das ist kein Problem". Auch dass islamische Fundamentalisten Zulauf haben, sei nicht von Bedeutung. "Das ist eine Minderheit", witzelt Finci. Die Volksgruppen der Bosniaken, Serben und Kroaten seien "zu sehr damit beschäftigt, sich gegenseitig zu hassen". Da bliebe für die Juden keine Zeit.

In einem sind sich die drei konstituierenden Völker jedoch einig: Juden sollen keine hohen politischen Ämter besetzen dürfen. So sieht es die Verfassung vor. "Deshalb kann niemand Präsident sein, der nicht Bosniake, Kroate oder Serbe ist. Er kann nicht in die Volkskammer des Parlaments gewählt werden. Und er kann kein Richter des Verfassungsgerichts oder des Obersten Gerichts sein", sagt Finci. Dagegen klagt er vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. "Es ist an der Zeit, dass die Rechte des Einzelnen geachtet werden, und nicht die Rechte einer Volksgruppe", meint der Jurist. Er ist realistisch. "Ich werde nicht Präsident Bosnien-Herzegowinas sein", sagt er. Aber es geht ihm ums Prinzip.

Die Wartenden begrüßen einen weiteren Neuankömmling. Die zehn Erwachsenen, die für ein Gebet benötigt werden, sind nun beisammen. Das ist nicht immer so. "Es ist oft ein Problem", sagt der junge Shlomo Goldstein Mesic, "einen Minjan zusammen zu bekommen". Die Gebetsgemeinschaft versammelt sich im Gemeinderaum. David Camhi legt sich einen Schal um und rezitiert aus einem Hefter mit fotokopierten Seiten: eine improvisierte Thora-Rolle. Camhi betet vor, denn einen Rabbiner gibt es nicht. Der kommt nur zu den hohen Feiertagen aus Jerusalem. Die kleine Gemeinde antwortet. Am Ende wünschen sich alle "Schabbat Schalom" und schütteln einander die Hände. "Niemand weiß, was morgen ist", sagt Jakob Finci nach dem Gebet, "aber wir glauben daran, dass die Juden auch in den nächsten 500 Jahren hier in Sarajevo mit ihren Nachbarn friedlich zusammenleben werden."


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