Dunkle Wolken an der irakischen Grenze
Der Aufmarsch der türkischen Armee entlang der irakischen Grenze soll in diesen Tagen abgeschlossen werden. Mehr als 100.000 türkische Soldaten warten dann auf den Einmarschbefehl in den Nord-Irak. Ein Krieg droht, nachdem Rebellen der kurdischen Terrorgruppe PKK in den vergangenen Monaten vom Irak aus immer wieder türkische Stellungen angegriffen und Dutzende von türkischen Soldaten getötet haben. Der kurdische Schriftsteller Zeynel Abidin Kizilyaprak hat dieses Szenario bereits vor Monaten in seinem Buch: "Irak-Kurdistan - ein türkischer Alptraum" präzise vorausgesagt. Mirko Schwanitz und Ellen Rudnitzki sprachen mit dem Autor, der 2003 nach Deutschland geflohen ist, mittlerweile aber wieder in die Türkei zurückkehren konnte, über die Eskalation an der türkisch-irakischen Grenze.
Im Oktober wurden 13 türkische Soldaten von PKK-Rebellen ermordet. Anfang Dezember antwortete die türkische Armee mit Artilleriebeschuss auf PKK-Stellungen im Irak. Ein neuer Krieg droht und Sie haben dieses Szenario in Ihrem Buch ziemlich präzise vorausgesagt. Sind Sie Hellseher?
Kizilyaprak: Nein. Aber der Konflikt kam überhaupt nicht überraschend. Seit der frühere Führer der PKK, Abdullah Öcalan, im Gefängnis sitzt, haben sich immer mehr Kurden von der PKK abgewandt. Ergebnis war, dass in den Parlamentswahlen im Juli die gemäßigte Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung, AKP, die Mehrheit der Stimmen bekam und eben nicht die der PKK nahe stehende Partei DTP. Für die PKK war dieses Wahlergebnis ein Zeichen, dass sie ihre Pfründe verliert. Die verabscheuenswürdige Ermordung 13 türkischer Soldaten war eine Reaktion darauf. Und geradezu eine Einladung für die türkische Armee einzumarschieren.
Zeynel Abidin Kizilyaprak / Ingrid Bussenius, n-ost
Ist das wirklich ein Grund, mehr als 100.000 Soldaten in Marsch zu setzen?
Kizilyaprak: Der wirkliche Grund für diesen Aufmarsch heißt Kerkük. Kerkük ist eine der erdölreichsten Städte im Irak. Hier sollte im Dezember ein Referendum darüber abgehalten werden, ob sich die Stadt dem von Kurden dominierten Nordirak anschließen will. Dass der Nordirak unter kurdischer Verwaltung politisch relativ stabil ist, ist der Türkei bereits ein Dorn im Auge. Zum ersten Mal existiert hier de facto ein freies und von Kurden verwaltetes Kurdistan. Dass dies nun auch noch wirtschaftlich erstarkt, beunruhigt Ankara, weil es Begehrlichkeiten unter den immerhin 25 Millionen in der Türkei lebenden Kurden wecken könnte. Um das zu verhindern, wird das türkische Volk manipuliert und behauptet, dass die in der Stadt Kerkük lebende und den Türken nahe stehende Minderheit der Turkmenen vor den Kurden geschützt werden müsste.
Und die PKK?
Kizilyaprak: Auch die PKK hat kein Interesse an einer politischen Stabilisierung des Nordirak, weil sie spürt, wie sehr sie im Zuge dieser Stabilisierung an Anhängern verliert. Um das zu verhindern, macht sie nun quasi mit der türkischen Armee gemeinsame Sache, indem sie den Einmarsch der türkischen Truppen bewusst provoziert. Damit liefert sie den nationalistischen politischen Kräften jenen Grund, auf den die geradezu warteten. In Wirklichkeit geht es aber um die Destabilisierung des Nordirak und nicht um die Auslöschung der PKK. Ohne die Existenz der PKK wäre es für die Türkei wesentlich schwerer, die Machtverhältnisse im Nordirak zu beeinflussen. Und so heißt es nun von offizieller Seite nicht mehr: Vernichtet die PKK! Jetzt heißt es: Tötet Barsani!
Massud Barsani ist der Führer der Kurden im Irak. Welchen Einfluss hat die Stimmungsmache gegen ihn und seine Anhänger auf das Leben der Kurden in der Türkei?
Kizilyaprak: Die Wut wird geschürt und sie richtet sich gegen alle Kurden. Es gab viele antikurdische Demonstrationen, kurdische Geschäfte wurden geplündert. Und das verschafft der PKK wieder Zulauf, und dann wird unter dem Vorwand eines Erstarkens der PKK der Kessel noch weiter angeheizt. Das ist der Kreislauf.
Sie leben in Istanbul, wie ist die Situation dort?
Kizilyaprak: Stellen Sie sich vor, vor dem Eingang ihres Wohnviertels steht eine Menschenmenge und skandiert: Kommt raus! Wir bringen Euch alle um! Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie spüren, dass die Polizei Sie im Ernstfall nicht schützt, sondern mit dieser Menge gemeinsame Sache machen würde? Stellen Sie sich vor, die kurdische Bevölkerung hätte die Nerven verloren und zu den Waffen gegriffen, um sich zu wehren. Wir hätten hier sofort bürgerkriegsähnliche Zustände. Dass wäre schlimmer als alles, was in Bosnien-Herzegowina passierte. Ich bin sehr froh, dass die gemäßigten Kräfte in der türkischen Regierung diese Gefahr erkannt und alle Demonstrationen verboten haben - sie wissen genau, ein solcher Bürgerkrieg bedeutet das Ende des türkischen Staates.
Wie beurteilen Sie die Rolle der türkischen Medien in dem Konflikt?
Kizilyaprak: Wer die Medien in unserem Land verfolgt, gewinnt den Eindruck, dass alle Kommentatorenstellen von Generälen besetzt wurden, die strategische Pläne erörtern. Da ist nur davon die Rede, wo man angreifen, wo man umzingeln, wo man Kurden bombardieren muss.
Was empfinden Sie, wenn Sie so etwas lesen?
Kizilyaprak: Ich bin wirklich nicht auf der Seite der PKK, aber wenn Sie das Gefühl bekommen, von allen Seiten angefeindet zu werden, kann man die Leute verstehen, die die PKK unterstützen, einfach weil sie sich in die Ecke gedrängt fühlen. Was leider überhaupt nicht gesehen wird ist, dass die Kurden ihrer kritischen Stimmen beraubt werden. Wenn Leute wie ich die PKK kritisieren, werden sie als Handlanger des türkischen Staates verunglimpft, kritisiere ich sie nicht, wird mir vorgeworfen, ich würde den Terror unterstützen.
Zeynel Abidin Kizilyaprak gilt als einer der profundesten Kenner der Auseinandersetzung zwischen der Türkei und der PKK. 1980 wurde kurdische Journalist und Schriftsteller wegen angeblicher Propaganda gegen die Türkei festgenommen. Es folgten Folter und fünfeinhalb Jahre Gefängnis. Danach arbeitete er als Chefredakteur verschiedener kurdischer Zeitungen. Vor einer erneuten Verhaftung floh er 2003 nach Deutschland. Vor dem Hintergrund eines erhofften EU-Beitritts ließ die Türkei Zeynel Abidin Kizilyaprak vor einiger Zeit in seine Heimat zurückkehren.
Wieso werden in diesem Konflikt die kritischen, versöhnenden Stimmen so wenig gehört?
Kizilyaprak: Meiner Meinung nach bilden die türkische Armee und die PKK eine Art unheilige Allianz. Die so genannten Freiheitskämpfer, die in der PKK kämpfen, beziehen ihr gesamtes Selbstwertgefühl aus dem Kampf gegen die türkische Armee. Wenn der Lebensinhalt eines PKK-Mitglieds 20 Jahre lang in nichts anderem als Kampf bestand, dann ist der Kampf seine Identität. Würde der Kampf wegfallen, die PKK sich auflösen, würden ihre ganzen Gewohnheiten, ihre Art zu denken, plötzlich bedeutungslos. Sie würden ihre Identität verlieren und in tiefes, sehr tiefes Loch fallen. Die türkischen Generäle befinden sich in genau der gleichen Situation. Auch sie beziehen ihr Selbstwertgefühl aus dem Kampf und bezeichnen sich gerne als die eigentlichen Herren des Landes. Sie hätten viel zu verlieren, wenn die Gewalt beendet würde.
Sehen Sie einen Ausweg?
Kizilyaprak: Ja. Aber der bedarf weitsichtiger Staatsmänner.
Denn der einzige Ausweg, den ich sehe ist, dem kurdischen Volk mehr
Freiheit zu gewähren. Das ist das einzige Mittel, um die PKK allmählich
zu marginalisieren. Die Erfahrungen im Nord-Irak zeigen: In dem Maße,
wie die Kurden sich selbst verwalten konnten, schrumpfte die
Anhängerschaft der PKK. Es passiert aber das Gegenteil, Reformen werden
wieder eingefroren und die internationale Gemeinschaft, die sich in der
Sache hinter Ankara stellte, muss sich nun nicht verwundert die Augen
reiben und sich fragen, wieso die PKK und die Nationalisten wieder
Aufwind bekommen. Was wir derzeit erleben, ist ein Sieg der Gewalt.