Zentralasiatisches Brasilia
Pünktlich um 8.27 Uhr rollt der Zug aus Almaty in den Bahnhof von Astana ein. Zurückgelegt hat er die 1300 Kilometer in 14 Stunden, also durchschnittlich knapp 93 Kilometer pro Stunde - das ist Geschwindigkeitsrekord in Zentralasien. Seit drei Jahren verbindet der hochmoderne Almaty-Astana-Express die alte mit der neuen Hauptstadt Kasachstans. Gulden Kenschebajewa eilt den Bahnsteig entlang Richtung Ausgang. Die Kasachin arbeitet im Kundendienst eines Bauunternehmens in Almaty und ist geschäftlich unterwegs. Aber wie viele denkt sie bereits über einen ständigen Umzug in die neue Hauptstadt Astana nach. "Hier ist die Luft gut, das Leben viel ruhiger und angenehmer", sagt die 22-Jährige. "Kein Stau, kein Smog wie in Almaty. Und eine gut bezahlte Arbeit finde ich auch hier." Nur der Winter sei im Norden natürlich rauer, 40 Grad minus und Schneegestöber sind dort eher die Regel als die Ausnahme. Aber warm angezogen, glaubt Gulden, könnte man das schon aushalten.
Als der kasachstanische Präsident Nursultan Nasarbajew im Dezember 1997 bekannt gab, die Hauptstadt Kasachstans vom fast südländisch anmutenden Almaty ins raue Akmola inmitten der Steppe zu verlegen, spotteten viele, die Stadt, deren Name zu deutsch "weißes Grab" bedeutet, würde ihrem Namen alle Ehre machen. Seit der Unabhängigkeit Kasachstans, der nach Russland zweitgrößten ehemaligen Sowjetrepublik, war besonders der agrarisch geprägte Norden des Landes in eine tiefe wirtschaftliche Depression gefallen. Dass die Dollarmilliarden aus der Staatskasse - und die von Nasarbajews Konten - das provinzielle, damals 280.000 Einwohner zählende Akmola in die blühende Kapitale Astana verwandeln würden, hätte damals kaum jemand erwartet.
Blick vom Fenster des Kaz Munai Gas-Buildings auf die neue Hauptstadtachse. / Henryk Alff, n-ost
Der Gründe für den spektakulären Hauptstadtumzug sind bis heute nicht restlos geklärt. Die einen vermuteten, dass Nasarbajew damit Sezessionsbestrebungen des vorwiegend russisch besiedelten Nordkasachstans entgegenwirken wollte. Die anderen sprachen von der erschöpften Wachstumsfähigkeit Almatys. Nicht zuletzt spielt wohl die nationale Symbolik im unabhängigen Kasachstan eine Rolle: So wurde aus Akmola Astana, was in der Landessprache schlicht Hauptstadt heißt. Die Vorbereitungen für die Jubiläumsfeiern laufen auf Hochtouren. Da der Winter sich dafür weniger anbietet, findet das offizielle Fest erst am 6. Juli 2008 statt, zehn Jahre nach der Präsentation der Planungsentwürfe. Die Hauptstadt erwartet die größte Party in ihrer kurzen Geschichte. Die Bauarbeiten in den Kernbereichen des Regierungsviertels sollen bis zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen sein. Unter anderem sollen dann eine neue Kongress- und Veranstaltungshalle, mehrere Einkaufs- und Vergnügungseinrichtungen und ein modernes Stadion mit 30.000 Plätzen bereit stehen.
Überquert man heute, genau zehn Jahre nach dem Umzugsbeschluss der kasachstanischen Regierung, den Fluss Ischim, traut man seinen Augen kaum. Noch vor wenigen Jahren lag hier nur ödes, mückenverseuchtes Sumpfland. Heute entsteht dort das vom japanischen Stararchitekten Kischo Kurokawa entworfene Astana der Zukunft, das zentralasiatische Brasilia des 21. Jahrhunderts. Beiderseits einer vom Straßenverkehr befreiten Achse werden im Akkord futuristische Wohn- und Geschäftsbauten hochgezogen. Die kilometerlange Anlage ist auf wuchtige Ministerialbauten, das Parlament und den Präsidentenpalast ausgerichtet - ein Zeichen der dominanten Staatsmacht im autoritär regierten Kasachstan. Das dahinter gelegene pyramidenähnliche Gebäude von Sir Norman Foster, Schöpfer der Glaskuppel des Berliner Reichstags, verstärkt diesen Eindruck noch. Auf Foster gehen auch die Pläne für das derzeit ehrgeizigste Projekt Astanas zurück: Ein gläsernes Zelt von 150 Meter Höhe. Auf dessen zehn Fussballfelder umfassender Fläche sollen Erholungseinrichtungen und Einkaufszentren Platz finden. Nach der geplanten Fertigstellung noch in diesem Winter werden die Hauptstädter dort selbst bei Minus 40 Grad Außentemperatur Bootstouren unternehmen und unter Palmen Cocktails schlürfen können.
Nomadische Symbolik vor einer Glasfassade der neuen Hauptstadt. / Henryk Alff, n-ost
Im Zentrum des städtebaulichen Ensembles steht der 105 Meter hohe Baiterek-Turm, Unabhängigkeitssymbol und Motiv auf sämtlichen Geldscheinen der Landeswährung Tenge. Unter der goldenen Kugel des eigenwilligen Bauwerks wartet Alexej Nedopekin. Der 30-jährige Innenarchitekt hat deutsche Vorfahren, die während des stalinistischen Terrors von der Wolga in die kasachische Steppe deportiert wurden. Anders als die meisten anderen Kasachstandeutschen hat er sich hier eine dauerhafte Existenz geschaffen. Als selbständiger Designer kann er sich vor Aufträgen kaum retten. "Die, die es sich leisten können, wollen in ihrer Wohnung alles vom Feinsten. Dazu gehört auch eine außergewöhnliche Einrichtung", berichtet Alexej. Inzwischen hat er sich selbst eine Wohnung im nun 600.000 Einwohner zählenden Astana gekauft - obwohl die Preise dafür heute deutsches Niveau erreicht haben. "Viele meiner Verwandten sind seit Anfang der 1990er Jahre nach Deutschland ausgewandert. Ich aber habe dort nichts verloren."
Von Glitzer und Prunk ist jenseits des Flusses wenig zu spüren. Unweit des Bahnhofs zeugen poststalinistische Altbauten, verfallene Getreidespeicher und rostende Propagandatafeln von der sowjetischen Geschichte Astanas. Die Stadt, damals noch Zelinograd, wurde in den 1950er Jahren zum Zentrum der Neulandkampagne, mit der Nikita Chruschtschow die Steppen Kasachstans in die zweite Kornkammer der Sowjetunion verwandeln wollte. Zwischen 1954 und 1964 kamen etwa 800.000 Arbeiter aus allen Unionsrepubliken den Aufrufen der Parteiführung nach. Rund um Zelinograd, auf Deutsch Neuland-Stadt, wurden Millionen Hektar Steppe unter den Pflug genommen. In der Stadt eröffneten Betriebe zur Herstellung von landwirtschaftlichen Maschinen und zur Getreideverarbeitung, neue Wohnbezirke und kulturelle Einrichtungen wurden errichtet.
Reisezeit: Klimatisch ist die beste Reisezeit der Frühling. Die Steppe um Astana verwandelt sich dann in ein Blumenmeer. Im Winter (November bis April) fällt die Temperatur bis auf minus 40 Grad.
Einreise: Deutsche benötigen für die Einreise nach Kasachstan ein Visum, das in der Botschaft der Republik Kasachstan in Berlin oder anderen konsularischen Vertretungen des Landes beantragt werden kann.
Informationen: www.botschaft-kaz.de
Anreise: Lufthansa, Turkish Airlines, Air Astana und andere Fluggesellschaften steuern Astana von mehreren deutschen Städten aus täglich an. Eine Anreise ist auch über Almaty und dann mit dem Almaty-Astana-Express möglich.
Organisierte Touren mit unterschiedlichem thematischen Schwerpunkt bietet das Berliner Reisebüro Kasachstan Reisen www.kasachstanreisen.de
Literatur: Dagmar Schreiber: Kasachstan entdecken, Trescher-Verlag, 2. Auflage 2005, 500 Seiten, 18,95 €.
Irina Chomenko erinnert sich noch gut an diese Zeit. Heute Rentnerin, kam sie selbst Anfang der 1960er Jahre als Hochschulabsolventin aus der Ukraine nach Zelinograd. Um ihren Beitrag zum gesellschaftlichen Aufbau zu leisten, wie sie sagt. "Alles war damals in Bewegung", berichtet Irina. "Es herrschte ein ungeheurer Enthusiasmus. Bei dem Bau des Hauses hier habe ich, sogar als Schwangere, selbst mitgeholfen", erinnert sich die 69-Jährige.
Die Jahre sind indes nicht spurlos an der Wohnung der Chomenkos vorübergegangen. Blümchentapeten hängen schlaff von den Wänden, das Parkett ist abgetreten, einzelne Dielen fehlen. Nur ein Rinnsal tropft aus dem verkrusteten Wasserhahn in den Teekessel, den Irina in der Hand hält. "Die Zeiten ändern sich", sagt sie und meint den Verfall, den ihre Heimatstadt erlebt hat. Immer weniger Weizen gab der trockene Steppenboden her. Der Wind blies die fruchtbare Scholle davon. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Wegfall der Subventionen aus Moskau ging es dann nicht mehr weiter. "1993/94 mussten wir die abgeernteten Felder nach liegen gelassenen Ähren absuchen, um etwas zu essen zu haben", erzählt Irina. Dass es heute wieder bergauf geht, sei dem Präsidenten und seiner Entscheidung zu danken, meint die Rentnerin. "Mit jedem Monat verändert sich die Stadt. Manche Ecken erkennt man nicht wieder, wenn man länger nicht dort war", berichtet Irina. Man spüre den Wandel. Es sei wie im Frühling, wenn alles rundherum neu entstehe.
Der Wermutstropfen: Die Lebenshaltungskosten in der Stadt haben sich seit der Hauptstadtentscheidung vervielfacht. Besonders die Immobilienpreise sind trotz des Baubooms auf exorbitantes Niveau gestiegen, 1500 Euro pro Quadratmeter Wohnfläche sind inzwischen ein guter Deal. Zuviel für die meisten Bewohner und Zureisenden.