Ein Urteil ohne Beweise
Der Fall des 17-Jährigen Deutschen Marco W., der wegen angeblicher Vergewaltigung einer 13-jährigen Britin seit April in türkischer Untersuchungshaft sitzt, hat die Aufmerksamkeit auf das türkische Rechtssystem gelenkt. Kaum beachtet wird dagegen der Fall des Journalisten Mehmet Bakir. Dieser war bis 2002 Berlin-Korrespondent der türkischen Kulturzeitschrift "Güney". 22 Jahre hat er in Deutschland gelebt, ist mit einer Deutschen verheiratet und stand kurz vor der Einbürgerung. Seit seiner Verhaftung im Juli 2002 darf er die Türkei nicht verlassen, am 6. Dezember tritt er nun seine Haftstrafe im Hochsicherheitstrakt von Edirne an. "Ich hoffe auf angenehme Zellengenossen", flüchtet sich Bakir in Anspielung auf die hoffnungslose Überbelegung der türkischen Hochsicherheitstrakte in Galgenhumor.
Die absurde Geschichte von Mehmet Bakir beginnt im Sommer 2002 während eines Urlaubs in der Türkei. Zusammen mit dem nun bereits seit fünf Monaten im Hochsicherheitstrakt von Alanya inhaftierten deutschen Staatsbürger Mehmet Desde und fünf weiteren Freunden wird Bakir im Badeort Kusadasi verhaftet. Ein Zivilpolizist beschuldigt die Gruppe, am Strand konspirative Pläne geschmiedet zu haben. Die Polizei steht unter Fahndungsdruck, da in der Nähe der benachbarten Stadt Izmir Flugblätter der "Bolschewistischen Partei Nordkurdistan-Türkei" aufgetaucht waren. Alle inhaftierten Männer stammen aus Tunceli, einem Zentrum der türkischen und kurdischen Linken, die sich vor dem Militärputsch 1980 blutige Auseinandersetzungen mit Anhängern der Rechten geliefert hatten.
Mehmet Bakir / Sabine Küper-Büsch, n-ost
Desde und Bakir wird vorgeworfen, Gründer und "leitende Mitglieder" einer terroristischen Organisation zu sein und sich im Land zu befinden, um ein militärisches Ausbildungscamp zu organisieren. Da es keine Beweise für diese Vorwürfe gibt, versucht die Polizei Geständnisse zu erzwingen. Nach der Festnahme wird es den beiden verweigert, die deutsche Botschaft sowie ihre Verwandten zu benachrichtigen. Auch ein Anwalt steht nicht zur Verfügung. Die Polizisten verlangen eine Unterschrift unter bereits vorgefertigte Geständnisse. Als die beiden sich weigern, werden sie schwer misshandelt. Erst nach vier Tagen werden die Festgenommenen dem Haftrichter vorgeführt. Die folgende Untersuchungshaft dauert sechs Monate, danach ergeht eine Ausreisesperre.
Mehmet Desde / Sabine Küber-Büsch, n-ost
Es folgt ein langwieriger Rechtsweg. Während des Prozesses stellt sich heraus, dass keinerlei Beweise existieren, außer einer später widerrufenen Zeugenaussage, nach der die beiden im Auto über ein "Camp" gesprochen hätten. Auch über die Organisation "Bolschewistische Partei Nordkurdistan-Türkei" gibt es kaum Informationen. Bekannt war sie bis dahin nur durch das Verteilen von Flugblättern. Gewaltaktionen sind nicht bekannt. Das Gericht beschließt daher während des Prozesses, dass es sich um eine "ideologisch staatsfeindliche", aber nicht "gewaltbereite" Organisation handle. Trotzdem werden die beiden Angeklagten jeweils zu 50 Monaten Freiheitsstrafe und 5.000 Euro Geldstrafe verurteilt.
Im April 2004 hebt der Kassationshof in Ankara das Urteil von Izmir auf. Da inzwischen aufgrund von EU-Reformen die berüchtigten Staatssicherheitsgerichte abgeschafft worden waren, verhandelte hier nun das zivile Landgericht die Revision. Selbst der Staatsanwalt plädiert wegen der mangelhaften Beweislage auf Freispruch. Vergeblich. Das Gericht verurteilt die Angeklagten zwar nicht mehr wegen "leitender", aber wegen "einfacher" Mitgliedschaft, die Strafe für beide wird auf zweieinhalb Jahre Haft reduziert. In letzter Instanz bestätigt im April 2007 die neunte Kammer des Kassationsgerichtshofs das Urteil. Ein parallel von der deutschen Regierung geführter Prozess gegen die den Deutschen Desde folternden Polizisten wird im Februar aus Mangel an Beweisen eingestellt, obwohl ein die Folter bestätigendes Gutachten der renommierten "Türkischen Menschenrechtsstiftung" vorliegt.
Mehmet Desde erhielt kurz nach dem Urteil die Aufforderung zum Haftantritt. Seit Mai sitzt er im Ferienort Alanya im Gefängnis. Doch anders als beim Schüler Marco W. schert sich kaum jemand um sein Befinden. Desde war lange in der "Stiftung für Menschenrechte", einem renommierten Behandlungszentrum für Folteropfer in Izmir in Behandlung. Er ist psychisch instabil und leidet an chronischen Magenbeschwerden, Desdes Familie lebt in Landshut, bis zu seiner Inhaftierung hatte er dort als Krankenpfleger gearbeitet. Nach Aussagen des Bruders Cetin Desde ist seine momentane Hoffnung eine Abschiebung nach Deutschland. Mehmet Bakirs Ehe ist an der langen Trennung gescheitert, sein Aufenthaltsstatus in Deutschland unklar. Er hofft, dass die lange Untersuchungshaft angerechnet wird und er "nur" eineinhalb Jahre absitzen muss.