"Ich habe abgetrieben!"
Vor der Wende waren Abtreibungen in Rumänien verboten, heute sind sie Verhütungsmittel Nummer einsIm Patientenraum eines Bukarester Krankenhauses ein blauer Linoleumboden, aus Neonröhren fällt kaltes Licht. An der Tür steht: "Abtreibungssalon". Sechs Betten im Raum - alle sind belegt. Intim ist hier nichts, stattdessen herrscht Hektik, in der Tür warten schon die nächsten Frauen. Einen Termin hat fast niemand. Wer zu den vormittäglichen Öffnungszeiten kommt, wird behandelt. Gina, eine Bukaresterin, fragt ihre Bettnachbarin: "Das erste Mal?" Sie antwortet: "Und das letzte Mal!" Auf ihrer Stimme liegen Tränen. "Das nützt nichts, wenn Du weinst", rät ihr Gina. Sie selbst wird sich später eine Beruhigungsspritze geben lassen. Die junge Frau ist am Morgen mit einer Plastiktüte gekommen. Darin ein Bademantel, Hausschuhe, ein Päckchen Zigaretten, ein paar rumänische Lei als Bakschisch für die Schwestern und die Ärztin. Die 30-jährige Gina weiß, was sie für den morgendlichen Krankenhausbesuch braucht. Sie hat vor einem Jahr schon einmal abgetrieben. Gina hat zwei Jungs. Ein drittes Kind? Ja, sie hat darüber nachgedacht, sie wünscht sich ein Mädchen. Sie wird sich, wenn sie später auf dem Gynäkologie-Stuhl liegt, den Wunsch entfernen lassen. Wie soll sie auch drei Kinder versorgen, mit lediglich einem Einkommen, das ihr Mann als Fernfahrer verdient? Die anderen Frauen nicken verständnisvoll. Der Abtreibungssaal wirkt jetzt wie ein kollektiver Beichtraum, gesündigt, sagen die Wartenden, wird ein paar Minuten später. Ginas Mann weiß nicht, dass sie abtreibt: "Was soll er mir auch raten? Schließlich bin ich für die Kinder zuständig." Er weiß lediglich, dass sie bei einer ärztlichen Untersuchung ist. Das ist weder eine Lüge, noch die ganze Wahrheit.Neben jedem Bett liegt im Abtreibungssaal ein Flyer über Verhütungsmethoden. Die meisten Frauen benutzen ihn, um sich ein wenig Luft zuzuwedeln. Es ist heiß im Zimmer - gefühlt heiß. Für "moderne Verhütungsmethoden" wirbt der Handzettel, die eine sichere Alternative zur Abtreibung seien. Die Pille zum Beispiel. Gina weiß nur, dass "die dick machen soll, und dass manche Frau trotzdem schwanger geworden ist". Stimmt das, fragt sie die anderen. Die zucken mit den Schultern. Kondome lässt Ginas Ehemann nicht zu, für einen Verhütungskalender sei sie nicht geduldig genug. Aber vielleicht entscheidet sie sich für eine Spirale, "um nicht mehr diesen Abtreibungsstress zu haben."
Im Bukarester Krankenhaus ist dieser jahrzehntealte Gynäkologie-Stuhl heute noch im Gebrauch.
Annett Müller
Es gibt in Rumänien mehr Unwissen als Wissen über Verhütungsmittel - nicht zuletzt deshalb hat das Land mit derzeit jährlich rund 150.000 Abtreibungen die höchste Quote in Europa. Gründe gibt es viele: Regelmäßige Aufklärungskampagnen des Gesundheitsministeriums fehlen, wenngleich das Thema bis in jedes Dorf getragen werden müsste. Aber selbst im Biologieunterricht wird es ausgespart. Familienärzte könnten die Aufklärung übernehmen, doch weil zu viele Patienten in den Behandlungsräumen warten, fehlt oft die Zeit für ein Gespräch. Die Gynäkologin Ruxandra Dumitrescu weiß das aus eigener Erfahrung und erlebt regelmäßig, dass ihre Patientinnen wegen fehlender Informationen zu spät kommen. Bereits schwanger, denken die Frauen, dass Abtreibung nicht nur der letzte Weg, sondern auch die einzige Lösung sei. "Nicht die Armut, sondern Unwissenheit ist schuld an unserer hohen Quote", sagt Dumitrescu, "ich muss viele erst einmal darüber aufklären, dass man nicht schwanger werden muss, sondern kann." Zeit würde vieles ändern, meint die Ärztin, die eine psychologische Beratungspflicht vor der Abtreibung befürwortet wie beispielsweise in Deutschland. Wenn Frauen eine Bedenkzeit hätten, "würde sich die Mehrheit für ein Kind entscheiden, auch für ein drittes", sagt die Gynäkologin. "Doch in unserem hektischen Gesundheitswesen spricht niemand die Seele an." Hinzu kommt: Eine Abtreibung ist in Rumänien erschwinglich. Umgerechnet 20 Euro kostet sie in staatlichen Krankenhäusern und ist damit "billiger als die Pille" - so argumentieren die Frauen am Morgen im Abtreibungs-Wartesaal. Warum sich also nach Alternativen umsehen? "Ich habe abgetrieben!" - Für diesen Satz wäre Maria* vor der Wende zu mehreren Jahren Haft verurteilt worden. Noch heute will sie ihren Namen nicht nennen, "weil das Erlebnis zu beschämend ist, auch wenn es Teil meines Leben war." Hunderttausenden Frauen ist es ähnlich ergangen. Sie haben trotz des rigiden Verbots, das der einstige rumänische Diktator Nicolae Ceausescu erlassen hatte, illegal abgetrieben. Das Dekret aus dem Jahr 1966 war ein erster Vorbote von Ceausescus Vision, eines Tages nicht nur Herrscher eines Landes, sondern einer großen Nation zu sein. Deshalb ließ Ceausescu nicht nur Abtreibungen, sondern auch jegliche Verhütungsmittel verbieten: Kondome, Pille und den Verhütungskalender. Mit diesen drakonischen Regeln kroch der rumänische Diktator in jedes Ehebett. Erst mit fünf Kindern hatte seiner Meinung nach "die Frau ihre Aufgabe erfüllt". Wenn sie zehn Kinder gebar, wurde sie als "Heldenmutter" ausgezeichnet. In einem lebenswerten und damit familienfreundlichen Land wäre eine solch rigide Familienpolitik nicht nötig gewesen. Doch die Wirklichkeit in Rumänien sah anders aus, spätestens in den 80er Jahren war sie unerträglich geworden: Heizung, Strom und Lebensmittel wurden bis aufs Minimum rationiert, an Redefreiheit war schon lange nicht mehr zu denken. Als Maria Anfang der 80er Jahre ein drittes Mal schwanger wurde, war sie verzweifelt. Doch Angst, wegen einer Abtreibung zu einer Haftstrafe verurteilt zu werden, hatte sie keine. "Mein Alltag war doch schon ein Gefängnis", sagt sie rückblickend über das Ceausescu-Regime. Maria hat mehrere Anläufe unternommen, um abzutreiben - im Selbstversuch. Sie trank den Sud aus einem Kilogramm Petersilienwurzeln, sie badete in heißem Wasser - nichts half. Eine Biologielehrerin riet ihr schließlich zu einer Sonde, die sie nicht vergessen sollte, abzukochen. Marias Verzweiflung "war damals meine einzige Kraft". Zwei Tage hat es gedauert, vielleicht auch länger, die Sonde in den Gebärmutterhals einzuführen. "Ich gehörte zu einer Generation von Ignoranten, die den eigenen Körper nicht kannte." Maria hatte Glück im Unglück: Als Komplikationen auftraten, fand sie Ärzte, die den Mut hatten, ihr zu helfen. Sie beriefen sich auf den hippokratischen Eid statt auf Ceausescus Dekret.
Die illegalen Methoden lassen die Schwermut jener Jahre erahnen: Nadeln, dicke Pflanzenstiele und giftige Säuren sollten den Fötus lösen. Dafür gingen die Frauen zu Wunderheilern, zu Engelmachern, zum Metzger. Der Eingriff glich einem Selbstmord, den man hoffte, zu überleben. Mindestens 10.000 Frauen verloren beim illegalen Abtreibungsversuch in Rumänien ihr Leben. Sie hatten sich lebensgefährlich infiziert und oftmals Angst, in eine Klinik zu gehen. Dort hätten sie sich rechtfertigen müssen.Vlad Popescu*, früher Arzt, ist während der Ceausescu-Zeit zu sechs Monaten Haft verurteilt worden. Urteilsspruch: Mithilfe zur Abtreibung. Popescu sagt: "Ich habe lediglich die Frauen vor meinen Augen nicht verbluten lassen." Aufpasser für das medizinische Personal gab es viele. Geheimdienst-Mitarbeiter in Zivil täuschten im Krankenhaus sogar die Frauen und gaben vor, ein offenes Ohr für ihr Schicksal zu haben. Zugleich hatten die Ärzte nahezu jede Rettungsmaßnahme vor der Staatsanwaltschaft zu rechtfertigen. Gerieten sie an regimetreue Juristen, legten diese die Hilfe als Verbrechen aus. "Das Regime legte es auf Todesfälle an", sagt Popescu, "sie dienten als Abschreckungsmaßnahme für andere". Die schwerwiegenden Folgen des Abtreibungsdekretes entsetzen heute noch. Viele Frauen wurden nach misslungenen Eingriffen unfruchtbar, zahlreiche Mütter setzten ungewollte Babys aus, die Zahl der Waisenkinder explodierte - noch heute werden viele von ihnen wie Aussätzige behandelt. Auch bei erfolgreicher Abtreibung konnte man nicht von Glück sprechen. Über den Seelenkummer wurde geschwiegen. Wer orthodox war, bot sich als Ausgleich für jede Abtreibung als Taufpate bei einem Neugeborenen an. Man wollte Gott mit einer guten Tat um Einsicht bitten.Als eine ihrer ersten Amtshandlungen hob die rumänische Regierung nach der Wende das Abtreibungsverbot auf. Statt eines Baby-Booms folgte ein Abtreibungsboom: Knapp eine Million Fälle wurden 1990 registriert - das Volk schien im Freiheitsrausch das Menschenrecht auf Selbstbestimmung auszukosten, auf dass man in schwerster Not verzichten musste. Heute kann Selbstbestimmung ganz anders interpretiert werden. Verhütungsmittel gibt es in Hülle und Fülle. "Die Leute denken in ihrer Unwissenheit, was früher geholfen hat, muss auch heute gut sein und blenden die Realität aus", sagt Gynäkologin Ruxandra Dumitrescu.
Szene aus dem Film "4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage" von Cannes-Preisträger Cristian Mungiu
Concorde Filmverleih
18 Jahre nach der Wende hat der rumänische Regisseur Cristian Mungiu das Thema nun auf die Leinwand gebracht. Sein Film "4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage" erzählt von einem illegalen Abtreibungsdrama in der Ceausescu-Zeit. "Ich habe mich mit der Vergangenheit beschäftigt", sagt Mungiu, "weil wir nur damit unsere Gegenwart begreifen und ändern können." 18 vergangene Jahre bedeuten nicht immer, dass man schon erwachsen ist.* Namen geändertENDE