Gastarbeiter aus China unterstützen den Aufschwung
Tallinn, ein Stadtbus der Linie 18: An den Scheiben hängen die
üblichen bunten Werbeplakate, aber eines zieht sofort den Blick des
westlichen Betrachters auf sich: „Wir stellen ein!“, wirbt ein in der
estnischen Hauptstadt ansässiges Unternehmen. Und darunter: „Sie sind
über fünfzig? Kein Problem! Sie sind behindert? Trauen Sie sich! Ihnen
fehlt es an Qualifikationen? Was Sie bei uns brauchen, bringen wir Ihnen
bei!“ Bei einem Blick in die Tageszeitungen bietet sich ein ähnliches
Bild. Die Seiten mit den Stellenanzeigen quellen geradezu über von
Annoncen, die gute Löhne, ein angenehmes Arbeitsklima, Sozialleistungen
und Möglichkeiten zur beruflichen Weiterbildung versprechen – ein wahres
Füllhorn von Vergünstigungen ergießt sich über jedermann, der nur
bereit ist, sich zur Arbeit einzufinden. Junge Mädchen laufen durch die
Stadt in T-Shirts mit der Aufschrift „Ergänzen Sie unser Team“.
Süßwarenhersteller verteilen Bonbons, Schokolade und frisch gebackene
Pfannkuchen, um Mitarbeiter anzuwerben. Und immer mehr Unternehmen
zahlen Prämien für jede erfolgreiche Neueinstellung.
Ob in
Estland, Lettland oder Litauen: Die Wirtschaft brummt, immer wieder
werden zweistellige Zuwachsraten verzeichnet. In vielen Regionen der
drei baltischen Staaten herrscht mittlerweile Vollbeschäftigung – oder
gar Arbeitskräftemangel. Die Arbeitnehmer selbst sind sich ihres Wertes
durchaus bewusst: „Wer sich bei uns bewirbt, fängt erst einmal an zu
feilschen, über Arbeitszeiten, die Rahmenbedingungen und sein Gehalt“,
sagt Joole Kuljus-Triik, Personalchefin eines internationalen
Unternehmens.
Längst hat der Aufschwung auch strukturschwache Gebiete erfasst, beispielsweise die überwiegend von Russen bewohnte Stadt Narva im Nordosten Estlands. Hier will das aus Litauen stammende Einzelhandelsunternehmen Akropolis bis 2009 ein Einkaufszentrum errichten, aber schon heute rät Vadim Senitšenkov, Projektleiter von Narva Akropolis, seinen künftigen Mietern: „Ich empfehle allen, rechtzeitig nach Arbeitskräften zu suchen, beispielsweise unter den Mitarbeitern, die beim Textilunternehmen Kreenholm gekündigt worden sind und sich derzeit in Umschulungsmaßnahmen befinden.“
Es ist kaum zu glauben, aber Berichte über Konkurse und Betriebspleiten werden in Estland, Lettland und Litauen keineswegs nur als Katastrophenmeldungen wahrgenommen: So reichte schon das Gerücht, die Zuckerfabriken in den lettischen Städten Liepa-ja und Jelgava könnten geschlossen werden, um zahlreiche interessierte Unternehmen auf den Plan zu locken. Umgehend signalisierten sie ihre Bereitschaft zur Übernahme der Belegschaften. Was für viele deutsche Arbeitnehmer wie eine verheißungsvolle Botschaft aus einer anderen Welt oder aus längst vergangenen Zeiten klingt, ist in den drei baltischen Staaten heute tägliche Realität.
Aber die Entwicklung hat auch eine weniger erfreuliche Kehrseite für den gewöhnlichen Bürger. Peep Ehasalu zum Beispiel renoviert seit Monaten in Eigenarbeit sein schmuckes Einfamilienhaus in einem Tallinner Vorort. „Man muss monatelang auf Handwerker warten, und die besten sind sowie nach Finnland gegangen“, sagt der Familienvater. Und hat beschlossen: „Dann kann ich es genauso gut selbst machen.“ Auch Großprojekte werden immer häufiger nicht fristgerecht fertig gestellt, weil Bauarbeiter fehlen. Die Post wird in manchen Bezirken seltener ausgetragen, weil es keine Briefträger gibt. Buslinien dünnen ihre Fahrpläne aus, weil es an Fahrern fehlt. Und Ladenöffnungszeiten müssen reduziert werden, weil keine Verkäuferinnen zu finden sind.
Der Arbeitskräftemangel ist unterdessen nicht nur durch den wirtschaftlichen Aufschwung begründet: Viele Menschen haben Estland, Lettland und Litauen verlassen, um in den alten EU-Staaten wie Großbritannien, Irland oder Schweden zu arbeiten, wo höhere Löhne locken. Längst hat die drei baltischen Staaten eine Debatte darüber erfasst, wie diese Entwicklung umzukehren sei. Zahlreiche Unternehmen versuchen, die Arbeitsbedingungen zu verbessern, um auf diese Weise ihre Mitarbeiter bei der Stange zu halten. „Im Augenblick hat sich die Lage leicht entspannt, und dabei hat das Image unseres Unternehmens eine Rolle gespielt, denn die Angestellten bevorzugen häufig konkurrenzstarke Firmen mit einem dauerhaften Erfolg am Markt“, sagt Personalchefin Joole Kuljus-Triik. Außerdem steigen von Jahr zu Jahr die Löhne, teilweise mit Raten von über 20 Prozent, wenn sie freilich auch noch immer deutlich unter EU-Durchschnitt liegen. Auf diese Weise konnte zwar die Abwanderung zum Teil gebremst werden, aber Aktionen zur Rückwerbung der Auswanderer oder gar die Anwerbung von Arbeitnehmern aus anderen EU-Staaten verlaufen weiterhin schleppend.
Attraktiv wären die Löhne im Baltikum hingegen für Arbeitnehmer aus GUS-Staaten wie Russland, der Ukraine oder Moldawien. Aber gerade in Estland und in Lettland, wo es bereits große russischsprachige Minderheiten und Probleme mit deren Integration gibt, stoßen Vorschläge zur Anwerbung aus diesen Staaten auf Vorbehalte. Weniger groß sind die Bedenken gegenüber Gastarbeitern in Litauen, in dem verhältnismäßig wenige Einwanderer leben. Das Werftunternehmen „Vakaru; laivu; gamykla“ in der Hafenstadt Klaipeda hat einen Anfang gemacht und 51 Mitarbeiter eingestellt – aus China. „Wir versuchen auf diese Weise dem Arbeitskräftemangel zu begegnen“, sagt Geschäftsführer Arnoldas Šileika. Ursprünglich habe man versucht, Facharbeiter aus der Ukraine anzuwerben – aber die seien gleich weiter in die skandinavischen Länder gezogen. Die Beschäftigung von Chinesen habe er lange gescheut, nicht zuletzt aus Furcht vor Sprachproblemen. Aber nun habe seine Firma die Zusammenarbeit mit einem chinesischen Unternehmen gesucht und einen passenden Partner gefunden. Und es scheint, als mache diese Aktion Appetit auf mehr: IT-Mitarbeiter aus Indien, Textilarbeiterinnen aus Pakistan, Bangladesch oder Indonesien – die Debatte ist angelaufen. Auf der Werft in Klaipeda jedenfalls arbeiten nun zwei Jahre lang die Chinesen. Und eine Alternative gibt es nach Ansicht von Šileika nicht: „Überall fehlen Leute, nicht nur auf den Werften, sondern auch in anderen litauischen Unternehmen. Wollen wir unsere Kunden bei der Stange halten und unsere Märkte retten, müssen wir uns diesem Problem stellen.“