Kritik am Timoschenko-Prozess
Morgen wird die Urteilsverkündung gegen die ehemalige Ministerpräsidentin der Ukraine, Julia Timoschenko, erwartet. Die Anklage fordert sieben Jahre Haft für die Oppositionsführerin. Der Prozess hat weltweit für Aufsehen gesorgt und der ukrainischen Führung viel Kritik eingebracht. Nicht nur unabhängige Beobachter, wie das Helsinki-Komitee für Menschenrechte bewerteten den Prozess als politisch motiviert und werfen der Ukraine Missachtung internationaler Rechtsstandards vor. Auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, der Präsident der EU-Kommission Jose´-Manuel Barroso sowie US-Außenministerin Hillary Clinton haben die ukrainische Regierung in persönlichen Gesprächen dazu aufgefordert, die Anführerin der Orangenen Revolution von 2004, Julia Timoschenko nicht zu verurteilen.
„Die EU hat der Ukraine unmissverständlich klargemacht, dass es bei einer Verurteilung Timoschenkos keine Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens geben wird. Janukowitsch braucht aber politische Erfolge. Das Land kann es sich schlicht nicht leisten, diesen Zug abfahren zu lassen“, sagte Grigorij Nemyria, ehemaliger Vize-Premierminister.
Als am 24. Juni der Prozess gegen Timoschenko begann, hatte die Regierung die Parole ausgegeben, das Verfahren innerhalb weniger Wochen zu beenden und Timoschenko so aus der politischen Arena zu entfernen. Zu dem Zeitpunkt saßen bereits mehr als ein Dutzend Mitglieder der Vorgängerregierung in Haft.
Die Anklage lautet auf Amtsmissbrauch. Durch einen 2009 zustande gekommenen Gasvertrag zwischen der Ukraine und Russland sei ein Schaden in Höhe von rund 1,5 Milliarden Griwna (137 Millionen Euro) entstanden. Der russische Ministerpräsident Wladimir Putin, der den Vertrag damals mit Timoschenko ausgehandelt hatte, reagierte erzürnt, weil er um den Ruf Russlands als verlässlichen Partner bei Energiegeschäften fürchtete.
Sollte es am Dienstag zur Urteilsverkündung kommen, gehen Beobachter von zwei Varianten aus. Entweder wird die siebenjährige Haftstrafe verhängt oder es ergeht ein milderes Urteil. „Realistisch ist auch eine Freiheitsstrafe von fünf Jahren auf Bewährung“, sagte Wladimir Fesenko, Politologe und Direktor am Zentrum für Politikforschung, Penta. Mit einem solchen Szenario hätte Präsident Janukowitsch die EU-Forderung nach Haftentlassung erfüllt und bekäme wieder Verhandlungsspielraum. Allerdings wäre Julia Timoschenko vorbestraft und könnte weder an den Parlamentswahlen 2012 noch an den Präsidentschaftswahlen 2015 teilnehmen. Ihre Verteidigung hat beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg bereits Beschwerde eingereicht. Außerdem wollen die Anwälte bei einer Verurteilung auf jeden Fall in Revision gehen.
Um das EU-Abkommen nicht zu gefährden und die Verstimmungen mit Moskau zu kitten, muss Präsident Janukowitsch handeln. „Derzeit wird in der Administration des Präsidenten unter Hochdruck eine Lösung gesucht“, sagt Wladimir Fesenko.
Seit Ende der Sommerpause debattiert das Parlament über Änderungen im Strafgesetz. Einige aus der Zeit der Sowjetunion stammende Gesetze sollen gestrichen werden, ob das auch Artikel 365, Absatz 3 trifft, nach dem Timoschenko angeklagt ist, bleibt ungewiss.
„Die Entscheidung liegt alleine bei Präsident Janukowitsch. Es wird sich zeigen, ob er die Signale von EU und USA verstanden hat“, sagt Jewgenija Carr, Tochter von Timoschenko. Die 31-Jährige hat einen Abschluss der London School of Economics und vertritt ihre Mutter als Anwältin. Sie ist eine der wenigen, die Zugang zu Timoschenko hat, seitdem sie am 5. August inhaftiert wurde. „Meine Mutter hat sich ihre Stärke in der Haft bewahrt, allerdings gibt es Probleme mit ihrer Gesundheit. Sie hatte bereits eine Bronchitis, hohes Fieber und war stark erkältet. Wenn jetzt der Winter kommt und sich ihr Zustand weiter verschlechtert, fürchte ich um ihr Leben!“, so die Tochter von Timoschenko.
Auch politische Beobachter in Kiew warnen Janukowitsch davor, Timoschenko länger in Haft zu lassen: „Wenn sie im Gefängnis bleibt, wird sie zum berühmtesten Dissidenten in Europa", so der Soziologe Viktor Nebotschenko im ukrainischen Fernsehen. Im Hinblick auf die Verhandlungen mit der EU und den beginnenden Wahlkampf um die Parlamentswahlen 2012 sei diese Ausgangslage alles andere als optimal für die Regierung, brachte es auch der als pro-russisch geltende und der Regierungspartei nahestehende Politloge Michail Pogrebinski in der gleichen Sendung auf den Punkt.