Polen

Die vergessenen Jäger des Enigma-Codes

Polnische Kryptologen entschlüsselten Funksprüche der Deutschen im Krieg - nun erhielten sie in Posen ein Denkmal Ende Juli 1939, als die Bedrohung durch das Deutsche Reich immer größer wurde, entschloss sich der polnische Geheimdienst zu einem ungewöhnlichen Schritt: Englische und französische Experten wurden in ein geheimes Dechiffrierzentrum im Wald von Pyry bei Warschau eingeladen. Sie staunten nicht schlecht, als ihnen die polnischen Kollegen dort offenbarten, den Code der deutschen Enigma-Chiffriergeräte geknackt zu haben. Seit 1932 sei es gelungen, die Botschaft jeder neuen Enigma-Maschine zu entschlüsseln. Auch die Westalliierten waren der Enigma (griechisch: Rätsel) auf die Spur gekommen, als 1932 ein für Frankreich spionierender Deutscher geheime Verschlüsselungstafeln sowie eine Gebrauchsanleitung übergab. Der französische Geheimdienst leitete die Unterlagen damals an britische Stellen weiter. Auch den Polen übergab man einige, allerdings eher als wertlos betrachtete Hinweise. Während sich Franzosen und Briten aber an der Entschlüsselung des Enigma-Codes die Zähne ausbissen, waren polnische Mathematiker erfolgreich. Marian Rejewski (1905-1980), Jerzy Rózycki (1909-1942) und Henryk Zygalski (1908-1978) heißen die selbst in Polen lange Zeit vergessenen Helden. Über 60 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, dessen Verlauf die drei vielleicht entscheidend beeinflusst haben, wurde ihnen nun in Poznan (Posen) ein Denkmal gesetzt. Vor wenigen Tagen wurde das dreieckige Kunstwerk aus Metalltafeln, die Zahlenreihen sowie die Namen der Mathematiker tragen, vor dem Posener Schloss enthüllt. Das Schloss war 1912 in der damaligen Residenzstadt für Kaiser Wilhelm II. gebaut worden. In der Zwischenkriegszeit befand sich in dem Gebäude unter anderem die Mathematisch-Naturwissenschaftliche Fakultät der Posener Universität, an der Rejewski, Rózycki und Zygalski studierten.


Denkmal für Entschlüsseler des Enigma-Codes in Poznan.
Mariusz Forecki Für den Bau des Denkmales hatte sich vor allem der Informatiker Marek Grajek von der Posener Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften (PTPN) eingesetzt. Schirmherr des Projekts ist die Internationale Vereinigung für kryptologische Forschung (IACR), die weltweit wichtigste Fach- und Forschungsorganisation in der Kryptologie. Ihr Vorsitzender, Andrew Clark, betonte bei der Enthüllung am 10. November, das Engagement der IACR für das Denkmal sei auch eine Art Wiedergutmachung. Er sei überzeugt davon, dass die Briten den polnischen Mathematikern seinerzeit mit falschen Informationen über die Entschlüsselung des Enigma-Codes sehr geschadet hätten.


Kryptologe Marek Grajek vor dem Denkmal.
Mariusz ForeckiUm den Enigma-Code zu knacken, hätten die drei polnischen Mathematiker eine innovative mathematische Theorie erarbeiten müssen, betont der polnische Kryptologe Marek Grajek in seinem Buch "Enigma. Näher an der Wahrheit" ("Enigma. Blizej prawdy"), das am ersten Dezember in Polen erscheint. Der Erfolg von Rejewski, Rózycki und Zygalski habe die Epoche der Sprachwissenschaftler in Dechiffrierstellen unwiderruflich beendet. Erstmals in der Geschichte hätten zudem die dank der Dechiffrierungstechnik erworbenen Informationen die Qualität der durch Spione gesammelten Erkenntnisse überflügelt.Die Walzen der deutschen Enigma-Maschinen produzierten eine gigantische Zahl möglicher Verschlüsselungskombinationen. Die Erfinder selbst hielten es für völlig unmöglich, dass Nicht-Eingeweihte den Schlüssel knacken könnten. Doch bereits früh setzte man in Polen auf mathematische Dechiffriermethoden. 1929 wurde an der Posener Uni das Studienfach Kryptologie eingerichtet. "Das war damals eine absolute Pioniertat, mit einer unerwartet schnellen und riesigen Dividende", erläutert Kryptologe Grajek. Die Zielrichtung sei bereits damals klar gewesen: Es wurden vor allem Studenten der Mathematik mit Deutschkenntnissen gesucht. Rejewski, Rózycki und Zygalski zählten zu den besten.Um die Jahreswende 1932/33, kurz vor Hitlers Machtergreifung, knackten sie als Mitarbeiter der Dechiffrierstelle nahe Warschau die Anfangsversion der Enigma. Sie bauten sogar eine Enigma-Maschine nach. Mitte Januar 1933 konnten bereits Telegramme der deutschen Reichswehr mitgelesen werden. Im Juni 1934, also etwa zu der Zeit des so genannten Röhm-Putsches, dauerte die Entzifferung eines Telegrammes nur noch wenige Minuten. 1938 entwarf Rejewski das erste automatische Dechiffriergerät der Welt, das wahrscheinlich wegen seines tickenden Geräusches "Bomba" genannt wurde. "Für das Dritte Reich war dies tatsächlich eine Art Zeitbombe", kommentiert Experte Grajek. Die Maschine beschleunigte die Entzifferung und ersetzte die Arbeitskraft mehrerer Geheimdienstmitarbeiter.
 
1938 konnte etwa 75 Prozent der abgehörten deutschen Geheimkorrespondenz innerhalb weniger Stunden entschlüsselt werden. Doch als die Deutschen Ende 1938 die Zahl der Enigma-Walzen um zwei erhöhten und die Zahl der Verschlüsselungsmöglichkeiten exponentiell anstieg, konnten die polnischen Wissenschaftler aufgrund fehlender Ressourcen nicht mehr so schnell arbeiten wie bisher. Angesichts der drohenden Kriegsgefahr entschied man sich deshalb im Sommer 1939, das Wissen an die Verbündeten zu übergeben. Die Maschinen der Dechiffrierstelle bei Warschau wurden Anfang August mit der diplomatischen Post nach Paris und London transportiert, die Mitarbeiter der Dienststelle zunächst über Rumänien nach Frankreich evakuiert. In Polen wurde jeder Hinweis auf die Arbeit der Geheimdienststelle beseitigt. Ab Juli 1943 waren Rejewski und Zygalski in einer polnischen Dechiffrierstelle im  englischen Boxmoor, nordwestlich von London, tätig. Sie bekamen eine neue Aufgabe - die Codes der SS zu knacken. Hauptforschungszentrum war aber das englische Bletchley Park, 70 Kilometer entfernt von London, wo sich im Krieg bis zu 10.000 Personen mit der Dechiffrierung beschäftigten. Alle Dechiffriermaschinen, die Briten und Amerikaner während des Krieges bauten, lehnten sich an die von Rejewski entwickelte "Bomba" an. Die Öffentlichkeit erfuhr von der Maschine erst durch Notizen, die Rejewski nach 1967 in Polen publizieren konnte.  Eine Schlüsselrolle spielte der Coup der drei polnischen Mathematiker vor allem im Kampf gegen die deutschen U-Boote im Atlantik und während der Invasion der Alliierten in die Normandie im Sommer 1944. Vor dem so genannten D-Day kannten Briten und Amerikaner aus entzifferten Enigma-Funksprüchen fast die gesamte Gefechtsaufstellung der Deutschen.
 
Die Arbeit von Rejewski, Rózycki und Zygalski wirke bis heute nach, betont Kryptologe Grajek. "Ihre größte Leistung ist, die gegenwärtige Kryptologie zu einer absoluten Domäne der Mathematiker gemacht zu haben". Auch im Alltagsleben - bei Handygesprächen, Kartenzahlungen oder elektronischen Unterschriften - werden Daten heute mathematisch chiffriert. "Die Evolutionslinie, die von der Maschine für die Enigma-Dechiffrierung bis zum Computer führt, ist sehr kurz", fügt Grajek hinzu. Kommandeur Howard Engstrom von der US-Armee, der den Bau von Enigma-Dechiffrierungsmaschinen beaufsichtigte, gründete nach dem Krieg die Firma ERA, die frühe Computerversionen für die US-Armee herstellte. Engstroms Mitarbeiter Seymour Cray gründete später das Unternehmen CRAY. Unter dem Namen Cray 1 entwarf sie den ersten Supercomputer mit großen Rechenkapazitäten und einer vergleichsweise hohen Geschwindigkeit.Insgesamt waren die drei Polen zehn Jahre lang für polnische und später alliierte Geheimdienste tätig. Jerzy Rózycki starb 1942 bei einer Schiffskatastrophe in der Nähe der Balearen, als er nach einem Besuch einer Dechiffrierstelle in Nord-Afrika nach Frankreich übersetzen wollte. Rejewski und Zygalski überlebten den Krieg. Weil Enigma-Entschlüsselungsmaschinen aber weltweit weiter benutzt wurden, blieb auch die Tätigkeit der polnischen Kryptologen geheim. Rejewski kehrte nach Polen zurück. Aufgrund der neuen politischen Situation des nun kommunistischen Landes lag es in seinem eigenen Interesse, als früherer Mitarbeiter des mit den Westalliierten kooperierenden Geheimdienstes nicht entdeckt zu werden. Bis zu seiner Pensionierung arbeitete er an nach eigener Einschätzung uninteressanten Projekten in der mittelpolnischen Stadt Bydgoszcz (Bromberg). Ähnlich geruhsam verlief das Emigrantenleben von Henryk Zygalski, der als Mathematiklehrer in Großbritannien arbeitete. Kurz vor dem Tod von Rejewski und Zygalski wurde ihre Arbeit im Zweiten Weltkrieg bekannt. Die früheren Verbündeten im Westen hätten sich jedoch bemüht, die Rolle der Polen möglichst klein zu reden, kritisieren nicht nur polnische Historiker. Erst im Jahre 2002 wurde im britischen kryptologischen Zentrum Bletchley Park bei London eine Gedenktafel für sie enthüllt.Durch dieses lange Schweigen und Verschweigen sind Rejewski, Rózycki und Zygalski heute selbst in ihrem eigenen Land wenig bekannt. Das neue Denkmal in Posen ist nun als eine Art Wiedergutmachung zu betrachten. Gleichzeitig soll es Zeugnis darüber ablegen, dass Polen nicht nur als Soldaten in den Reihen der Alliierten gegen Hitler kämpften, sondern auch mit der Kraft ihres Intellekts zum Sieg über Nazi-Deutschland beitrugen. Nach Einschätzung einiger Historiker verkürzte der breite Einblick in die deutsche Militärplanung, der nicht zuletzt durch die Vorarbeiten in Polen möglich wurde, den Zweiten Weltkrieg um zwei bis vier Jahre. Hätte der Krieg auch nur ein Jahr länger gedauert, wären deutsche Großstädte vermutlich zum Ziel amerikanischer Atombomben geworden. "Vor einem solchen Szenario hat der Erfolg der Posener Mathematiker unseren Kontinent bewahrt", schlussfolgert Buchautor Grajek.ENDE


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