Kurdenkrise spitzt sich zu
Im Osten und Südosten des Landes wird längst gekämpft, während die Diplomaten tagen. Täglich präsentieren türkische Tageszeitungen Meldungen von den Frontlinien. In der Provinz Hakkari wurden nach massiver Bombardierung der Daglica-Berge zum Nordirak etwa 150 PKK-Militante umzingelt. Am Wochenende sind wieder schwere Verluste auf beiden Seiten zu erwarten. Am Donnerstag waren aus der Region vier gefallene Offiziere der türkischen Grenzschützer gemeldet worden, in den Bergen des ostanatolischen Tunceli starben 17 Mitglieder der PKK. Der türkische Generalstab erklärte am Mittwoch, dass an 62 Stellen Kampfhandlungen stattfinden. Die meisten liegen innerhalb der Türkei, gleichzeitig feuert die türkische Artillerie in die Berge des Nordirak.
Die "Peschmerga"-Armee des Kurdenführers Mesut Barzani, des Präsidenten der autonomen Kurden-Region im Nordirak, hat sich mittlerweile entlang der Grenze zur Türkei postiert. "Grenzüberschreitung wird als Kriegserklärung verstanden", erklärte Mesut Barzani gestern. Gleichzeitig wünscht sich der Führer der nordirakischen Kurden nichts mehr, als die 2000 bis 2500 Kämpfer starke PKK-Fraktion loszuwerden. Die Guerilla-Armee, die seit fast 20 Jahren um Autonomie in der Türkei kämpft, war von dort in den Nordirak geflohen. Am vergangenen Wochenende forderte Barzani die PKK sogar auf, die Region zu verlassen, um einer militärischen Intervention der Türkei vorzubeugen.
Aller Augen sind nun auf die Diplomatie gerichtet. Heute und morgen treffen die Außenminister der irakischen Nachbarländer, der G 8-Staaten und der EU in Istanbul zusammen. US-Außenministerin Condoleeza Rice trifft sowohl ihren türkischen Kollegen Ali Babacan als auch den deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der sich auf dem Rückweg seiner Nahostreise befindet. Nachdem die Krawalle zwischen nationalistischen Türken und PKK-nahen Kurden bereits in deutsche Städte getragen wurden, ist innerhalb der EU das Verständnis für die schwierige Lage der türkischen Regierung gewachsen.
Demonstration von Nationalisten in Moskau / Sabine Küper-Büsch, n-ost
Regierungschef Recep Tayyip Erdogan hatte den ganzen Sommer über versucht, eine Militäroperation zu verhindern. Erdogan betonte mehrfach, dass er angesichts von 23 Nordirak-Operationen in den vergangenen 15 Jahren kein Interesse an einer weiteren habe -zumal der größte Teil der Militanten mit etwa 3000 Kämpfern auf der türkischen Seite der Grenze in den Bergen sitzt. Mittlerweile wächst jedoch der innenpolitische Druck auf die Regierung Erdogan. Nachdem innerhalb von vier Wochen über 40 Soldaten im Kampf gegen die PKK gefallen sind, demonstrieren Hunderttausende in der gesamten Türkei für ein hartes Durchgreifen.
Im wohlhabenden und sonst friedlichen Bursa, einer Industriestadt 90 Kilometer südlich von Istanbul, wallte der zornige Patriotismus bei der Beerdigung des im Oktober durch die PKK getöteten Soldaten Samet Sarac auf. Im nahen Ferienort Ayvalik wurde das Gebäude der prokurdischen "Partei für eine demokratische Gesellschaft" (DTP) angezündet, landesweit werden Übergriffe auf Einrichtungen der DTP gemeldet. Eine Gruppe 20-Jähriger demolierte die Supermärkte eines kurdischen Geschäftsmannes in der Innenstadt von Bursa. Ihre Gesichter hatten sie rot gefärbt und auf die Wange einen weißen Stern gemalt, das Motiv der türkischen Fahne.
"Liebt die Heimat oder verlasst sie", heißt der angriffslustige Slogan der Randalierer. Er wurde ursprünglich von der französischen rechtsextremen "Front National" entwickelt und ist in der Türkei nun das Motto der ultranationalistischen "Nationalistischen Bewegungspartei" (MHP), die bei den Parlamentswahlen im Juli 14 Prozent erreichte und mit 71 Mandaten in der türkischen Nationalversammlung vertreten ist. Parteiführer Devlet Bahceli hatte im Wahlkampf die Wiedereinführung der Todesstrafe gefordert und Ministerpräsident Erdogan angehalten, PKK-Führer Abdullah Öcalan "endlich an den Galgen zu bringen." Öcalan verbüßt derzeit auf der Insel Mudanya im Marmarameer unweit von Bursa eine lebenslängliche Haftstrafe.
Viele Kurden fühlen sich von dieser nationalistischen Stimmung im Land bedroht, zumal die Hälfte der Bevölkerung bei den Parlamentswahlen im Sommer Erdogans islamisch-konservative "Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt" (AKP) wählte. In den von Kurden besiedelten südöstlichen Provinzen grassiert die Angst vor einer erneuten Eskalation des Konfliktes, der Großteil der Zivilbevölkerung ist des Krieges müde. In der Provinzhauptstadt Diyarbakir wurde der Ausnahmezustand erst 2002 nach 15 Jahren Notstandsgesetzen aufgehoben. Vertreter von 62 Verbänden der örtlichen Zivilgesellschaft, darunter ein einflussreicher Menschenrechtsverein, forderten die PKK am Wochenende auf, die Waffen niederzulegen, um eine Militäroperation zu verhindern.
Aysel Tapan, Mitglied der prokurdischen DTP rührt nervös in ihrer Teetasse. Vor dem Gebäude des Istanbuler Parteibüros parkt eine Polizeistreife, um Übergriffe zu verhindern. "Ich fürchte mich vor einer Explosion des Nationalismus auf beiden Seiten" seufzt die 42-Jährige. Momentan wächst der öffentliche Druck auf die Partei, Ministerpräsident Tayyip Erdogan forderte sie vergangene Woche auf, die PKK als Terrorganisation zu verurteilen. Der Parteivorsitzende Ahmet Türk wies darauf hin, dass sie einen Teil der kurdischen Basis damit brüskieren würden, vor allem die, die ebenfalls Opfer zu beklagen hätten. Ahmet Türk wurde 1994 mit anderen kurdischen Politikern, darunter der Sacharow-Preisträgerin Leyla Zana, verhaftet und saß 22 Jahre im Gefängnis, weil er die PKK unterstützt habe. Danach war die kurdische Minderheit zeitweise nicht im Parlament vertreten. Erst durch die Aufstellung unabhängiger Kandidaten gelang es der DTP, die Zehn-Prozent-Hürde zu umgehen und 23 Kandidaten mit Direktmandaten in die Nationalversammlung zu entsenden.Angesichts der momentanen Stimmung wird es der Partei allerdings schwer fallen, prokurdische Politik zu betreiben.
"Manchmal habe ich den Eindruck, es wird gar keine Lösung angestrebt", klagt Aysel Tapan. Sie spielt auf die türkische Regierungspolitik an, doch diese Feststellung trifft ebenso auf die kurdische Miliz und die DTP selbst zu. Mit der Forderung nach einer Lösung der Kurdenfrage verbindet die DTP momentan eine Generalamnestie für die PKK - eine für die Türkei absolut inakzeptable Forderung.Ministerpräsident Erdogan reist am 5. November in die USA, um mit Präsident George W. Bush zusammenzutreffen. Dann entscheide sich, ob die türkische Armee in den Nordirak einmarschiere oder nicht, erklärte gestern. Die Weichen für dieses Gespräch werden heute und morgen in Istanbul gestellt.