Lettland

Rücktritt des Premiers gefordert

Größte Demonstration in Riga seit der Unabhängigkeit 1991

Die Protestkundgebung könnte zu einem Meilenstein in Lettlands Geschichte seit der Unabhängigkeit 1991 werden. Etwa 5000 Menschen versammelten sich in dieser Woche bei strömendem Regen vor dem Parlament in Riga zu einer der größten Demonstrationen der letzten 16 Jahre. Einstimmig forderten Schauspieler und Journalisten, berühmte Persönlichkeiten und einfache Bürger in der lettischen Hauptstadt den Rücktritt von Regierungschef Aigars Kalivitis. Sie werfen ihm vor, durch die Entlassung des Chefs der staatlichen Antikorruptionsbehörde, Aleksejs Loskutovs, einen unbequemen Korruptionsjäger abschütteln zu wollen.Das Regierungslager wirft Loskutovs Unregelmäßigkeiten in der Buchführung vor. Eine Untersuchungskommission unter Generalstaatsanwalt Janis Maizitis hingegen konnte keine maßgeblichen Gesetzesverstöße in den Unterlagen der Behörde feststellen. Premier Kalvitis jedoch besteht auf der Entlassung Loskutovs, die nächste Woche vom Parlament bestätigt werden soll.„Loskutovs ist Kalvitis ein Dorn im Auge“, vermutet Lidija. Die Rentnerin hat sich trotz des ungemütlichen Wetters aufgemacht, gegen die Entlassung des Antikorruptions-Chefs zu protestieren. Auf ihrem weißen T-Shirt steht in schwarzen Buchstaben „Lebe aktiv!“ - und dies, so scheint es, hat sich die 70-Jährige zum Motto erkoren. „Hier geht es um viel illegales Geld, das die Politiker für ihren Wahlkampf aufwenden. Loskutovs ermittelte in dieser Sache. Vielleicht hat Kalvitis etwas zu verbergen“, vermutet sie.Betrug in der Wahlkampffinanzierung? Kalvitis Vorgänger Indulis Emsis von der  rechtkonservativen Grünen Partei Lettlands jedenfalls ist Ende September als Parlamentspräsident und Abgeordneter zurückgetreten. Grund ist eine Anklage wegen undurchsichtiger Geldgeschäfte.Vertreter der vier Regierungsparteien hatten Kalvitis dazu aufgefordert, die Angelegenheit unverzüglich zu klären. Sie stuften die Lage als ernst ein. Kalvitis, scheint es, hat begriffen und seinen Besuch beim EU-Gipfel in Lissabon vorzeitig abgebrochen, um sich aufgrund der Ereignisse in Lettland auf den Rückweg zu machen.Lettland sorgt seit einiger Zeit für negative Schlagzeilen. Sei es etwa Aivars Lembergs, der „Oligarch von Ventspils“, der nach wie vor hinter Gittern sitzt und auf seinen Prozess wartet, oder der amtierende Minister Ainars Šlesers, der die Direktorin der staatlichen Steuerbehörde entlassen will, anstatt saubere Bilanzen der von ihm geführten Firmen vorzulegen. Korruption, Inkompetenz und Entmündigung unabhängiger Kontrollinstanzen werfen lettische Medien der Regierung vor. US-Botschafterin Catherine Todd Bailey warnte unlängst sogar vor dem Einfluss „nicht gewählter Offizieller“, die den Staat zur Spielwiese einiger Interessen machen wollen.Die ehemalige lettische Außenministerin Sandra Kalniete sieht gar den Rechtsstaat Lettland in Gefahr. Gegenüber der Baltic Times sagte sie, hinter vielen Kabinettsentscheidungen stünden Oligarchen. Und wenn Recht und Gesetz in Gefahr seien, dann sei es auch der Staat. „Ich betrachte dieses Jahr als einen Wendepunkt in Lettlands Entwicklung. Entweder geht das Land weiter nach vorne, wenn wir in der Lage sind, eine 'saubere Basis' zu schaffen. Oder aber Lettland wird eines jener Länder, in denen Demokratie nur auf dem Papier existiert und die Menschen resignieren.“Politikverdrossenheit scheint in Lettland schon heute weit verbreitet. Fragt man junge Leute zwischen 25 und 35 Jahren etwa nach dem Fall Loskutovs, bekommt man immer wieder zu hören: „Für Politik interessiere ich mich nicht sehr. Ob ich wähle oder nicht, macht sowieso keinen Unterschied. Das hat man ja bei Zatlers gesehen.“. Den parteilosen Mediziner Valdis Zatlers hatte das Parlament im Sommer als Nachfolger der aus dem Amt geschiedenen Staatspräsidentin Vaira Vike-Freiberga gewählt. In der Bevölkerung unterstützten jedoch nur knapp 29 Prozent, fand eine Umfrage des Fernsehsenders LTV-1 heraus.Die Massenkundgebung von dieser Woche allerdings erlaubt einen optimistischeren Blick in die Zukunft des zentralen baltischen Staates: Mit der Entlassung Loskutovs könnte die lettische Regierung einen Schritt zu weit gegangen sein. Immer mehr Bürger stehen auf und zeigen: „Nun ist es genug!“ENDENadja Cornelius


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