„Endemische Polizeikriminalität“
Es war sein 20. Geburtstag, den Igor Indilo zusammen mit Freunden bis spät in die Nacht feierte. Am frühen Morgen hatte sich der Kiewer Student mit einem Freund auf den Heimweg gemacht, plötzlich wurden sie von Polizisten angehalten und mit aufs Revier genommen wurden. Angeblich hätten die beiden Jungen stark alkoholisiert auf der Straße randaliert.
Knapp 24 Stunden später wird Indilo tot in seiner Zelle gefunden. Der Autopsie-Bericht bescheinigt, dass er an einem Schädelbruch und inneren Blutungen gestorben ist. Die Verletzungen müssen ihn von mehreren Leuten beigebracht worden sein, die Schläge und Tritte seien mit erheblicher Gewalt verübt worden.
Igor Indilos Fall ist einer von vielen, den die Menschenrechtsorganisation Amnesty International (AI) in einem jetzt veröffentlichten Bericht dokumentiert. Demnach gehören Folter und Gewalt im Polizeigewahrsam, menschenrechtswidrige Haftbedingungen und unfaire Prozesse in der Ukraine auch 20 Jahre nach Zusammenbruch der Sowjetunion zum Alltag. Die Organisation spricht von einer „endemischen Polizeikriminalität“, die an Zustände zu Sowjetzeiten erinnert.
Auch der Sohn der Ukrainerin Tamara Rafalski hat ähnliche Erfahrungen gemacht. „Alexander ist seit zehn Jahren in Haft. Für einen Mord, den er nicht begangenen hat, wurde er zu einer lebenslänglichen Strafe verurteilt“, sagte die 57-Jährige bei der Präsentation des Berichts Mitte Oktober in Kiew.
Am 13. Juni 2001 wurde Alexander Rafalski an seinem Arbeitsplatz verhaftet und danach zwölf Tage an verschiedenen Orten fast pausenlos verhört. In der Zeit wurde er immer wieder ins Krankenhaus gebracht. Er durfte weder seine Eltern noch einen Anwalt verständigen. Rätselhaft ist vor allem, unter welchen Umständen der damals 20-Jährige verhört wurde. Vieles deutet darauf hin, dass das Geständnis erzwungen sein könnte.
Der Fall beschäftigt mittlerweile den Hohen Kommissar für Menschenrechte der UN (UNHCR). Der UNHCR hatte sich an die ukrainische Regierung gewandt, um an Informationen und Protokolle zu gelangen, die in der Verhörphase erstellt wurden. Ein UN-Bericht vom 16. Dezember 2009 stellt fest, dass man von den ukrainischen Behörden keine ausreichenden Informationen erhalten habe.
„Das überrascht uns überhaupt nicht, oft existieren nämlich keine schriftlichen Protokolle. Seit kurzem werden zur Sicherheit der Beamten Videoaufnahmen auf den Revieren gemacht, die aber unter Geheimhaltung fallen“, sagt Tatjana Mazur, AI Direktorin für die Ukraine.
Igor Idilos Fall kam durch solches Bildmaterial erst an die Öffentlichkeit. Videoaufnahmen vom Eingang der Polizeistation zeigten, wie eine Viertelstunde nach der ersten Einvernahme ein Krankenwagen vorfährt. Nach Aussagen des Arztes war Igor bewusstlos und wurde wiederbelebt. Eine Untersuchung oder gar Behandlung habe ihm die Polizei jedoch verweigert.
„Vor allem bei der ukrainischen Polizei finden sich starke Elemente aus der Sowjetzeit“, sagt Heather McGill, Amnesty-International-Spezialistin für die GUS-Staaten. Polizei und Sicherheitsbehörden verstehen sich in erster Linie als Kontrollorgan der Regierung und nicht als eine Serviceeinrichtung für die Bürger. „Das läuft den europäischen Maßstäben diametral entgegen“, so McGill. Die meisten Menschen in der Ukraine versuchen deshalb, möglichst nie mit der Polizei in Konflikt zu geraten. Wenn es dann doch passiert, versuchen Angehörige oder Anwälte Polizisten oder Richter zu bestechen.
Neben Amnesty International übt auch die Menschenrechtsbeauftragte der Ukraine Nina Karpatschowa Kritik am Umgang mit Häftlingen. So hätten die politischen Gefangenen und Ex-Minister Juri Luzenko und Valeri Ivanchenko erhebliche gesundheitliche Probleme und müssten zur Behandlung ins Krankenhaus.
Auch die Festnahme der ehemaligen Ministerpräsidentin Julia Timoschenko lange vor dem Urteil sei nach europäischen Maßstäben rechtswidrig gewesen. Das gleiche gelte für die Haftumstände. Stundenlanges Warten in einem engen, vergitterten Raum ohne Nahrung und Flüssigkeit auf den Verhandlungsbeginn gehörten zum Alltag ihres Prozesses. Timoschenko wurde am 11. Oktober zu sieben Jahren Haft verurteilt. Der Schauprozess gegen die Oppositionsführerin hat weltweites Aufsehen erregt und wird als politisch motiviert bewertet.