Eigener Wille verboten
Pinar hat die Zeit verloren. Die 20-Jährige hat aufgehört, die Tage und Monate zu zählen, seit sie getrennt von ihrer Familie lebt. Ihre Augen wandern umher. Suchen ihren Weg entlang des Asphalts vorbei an Straßenkreuzen, Fassaden, Mauern und Hinterhöfen. Ihren richtigen Namen will sie nicht verraten, zu groß ist die Angst, dass ihr die Geschichte, die sie zu erzählen hat, zum Verhängnis wird. Seit jene Bande zerrissen, die sie zu einem Teil ihrer Familie machten, muss die junge Türkin befürchten, Opfer eines Mordes aus Ehre zu werden.
Mit 18 Jahren wurde Pinar verheiratet. "Gegen meinen Willen", sagt sie. Die Widerworte, die sie dem Vater gab, verhallten ungehört. Unglücklich beugte sich die junge Frau seinem Druck. Kurz war die Zeit, die sie mit ihrem Ehemann verbrachte. "Ich fühlte mich, als hätte ich meinen Körper gegen Geld verkauft", erzählt sie. "Ich dachte an Selbstmord und litt an Depressionen." Nach acht Monaten, in denen sie nicht nur von ihrer eigenen Familie, sondern auch von der ihres Mannes drangsaliert und geschlagen wurde, hielt sie es nicht mehr aus. Pinar packte ihre Sachen und verschwand in der Anonymität der Millionenstadt Istanbul.
Wie Pinar geht es vielen Frauen in der Türkei. "Rund 40 Prozent der Frauen werden zwangsweise verheiratet, über 70 Prozent sind Opfer häuslicher Gewalt", so Menschenrechtsanwältin Hülya Gülbahar. "In den Familien wird Gewalt ausgeübt durch gesellschaftliche Normen, die menschenunwürdig sind, aber für Frauen vorgeschrieben. Jede Frau, die sich dagegenstellt, wird mit Gewalt konfrontiert."Alle drei Minuten wird laut Polizeistatistik eine Frau in der Türkei geschlagen oder misshandelt. Allein im vergangenen Jahr wurden 842 Frauen durch Ehrenmorde getötet. Im Jahr 2006 betrachteten fast 5900 Frauen und Mädchen Selbstmord als einzigen Ausweg aus ihrem Dilemma - doppelt so viele wie 2005. Oft werden die Betroffen zu diesem Schritt gedrängt, um die Familienehre wieder herzustellen. "Die Mehrheit der Männer sagt, dass ihre Frau zu Hause bleiben und auf ihre Kinder aufpassen soll", sagt die Juristin Gülbahar. "In diesem Satz ist alles versteckt. Frau und Kinder sind Privateigentum des Mannes."
Tradition und Moderne in Istanbuls Straßen. / Daniela Haußmann, n-ost
Eine Umfrage der Istanbuler Frauenkommission im Osten und Südosten des Landes ergab, dass Ehrenmorde vor allem ein kurdisches Problem sind. Rund 60 Prozent der befragten kurdischen Männer forderten "Bestrafung" für eine Frau, die ihre Ehre verloren habe. Ein Viertel von ihnen fand gar: "Sie muss getötet werden." Doch Gewalt gegen Frauen ist kein ausschließlich kurdisches Problem. Auch in Istanbul und unter Universitätsabsolventen werden Frauen verprügelt. Professorin Nükhet Sirman, Anthropologin am soziologischen Institut der Bogazic Universität Istanbul, meint: "Frauen werden nicht als Individuum wahrgenommen, sondern als Trägerinnen kollektiver Normen und Werte, die es unter allen Umständen zu wahren gilt."
Die 20-jährige Pinar erklärt das fehlende Verständnis der Eltern für ihre Wünsche damit, dass auch diese zwangsverheiratet wurden. "Meine Mutter wurde von meinem Vater geschlagen. Gewehrt hat sie sich nie." Auch die Schwester der 46-jährigen Zehra Ginar hat sich nie gewehrt. Sie wurde von ihrem Mann geschlagen und vergewaltigt. Zehra lehnte sich gegen ihren Schwager auf und drängte die Schwester, ihn zu verlassen. Der Mann schwor den beiden Frauen, sie umzubringen und durchschoss mit einem Gewehr Zehras Bein. Die Narben trägt sie bis heute nicht nur auf ihrer Haut, sondern auch auf der Seele. Von der Familie allein gelassen, kämpfte sie gegen die Herrschaft ihres Schwagers über die Schwester. Die überlebte den Anschlag nur schwer verletzt. Ihr Mann wurde zu einer Gefängnisstrafe von drei Jahren verurteilt, aber schon nach zwei Monaten wieder entlassen - "wegen guter Führung".
In der Türkei ist der Schutz der Frau gesetzlich verankert. "Woran es mangelt, ist die Umsetzung in der Praxis", kritisiert Selen Lermioglu Yilmaz von der Menschenrechtsbewegung Ari Hareketi. "Es müssten sich mehr Frauen politisch engagieren und ins Parlament gewählt werden. Gerade einmal 4 Prozent der 550 Abgeordneten auf Staatsebene sind weiblich. Noch immer machen Männer Gesetze für Frauen."Lediglich ein Viertel aller Türkinnen ist berufstätig. "Offiziell liegt die Arbeitslosenrate bei zehn Prozent, aber inoffiziell sind es 25 Prozent", erläutert Anthropologie-Professorin Nükhet Sirman. "Hier dominiert noch immer das männliche Ernährermodell. Frauen finden schwerer eine Arbeit. Und Männer, die ihre Ernährerfunktion nicht erfüllen können, bauen ihre Frustration darüber mit Schlägen ab." Dennoch auch in der türkischen Männergesellschaft sei es nicht unmöglich für Frauen, Karriere zu machen. Voraussetzung sei allerdings, dass sie von ihrer Familie unterstützt würden. "Dass nur sieben Prozent der Führungskräfte in der Türkei weiblich sind, spricht für sich", relativiert Hülya Gülbahar die Aussicht, Frauen könnten in der Männergesellschaft ganz nach oben kommen.
Mehr als 65 Prozent jener Frauen, die arbeiten, täten dies schwarz, so Gülbahar. "Das Jahreseinkommen einer Frau liegt 65,4 Prozent unter dem eines Mannes", erklärt sie. Im Osten des Landes hätten mehr als 90 Prozent aller Frauen überhaupt kein Einkommen, im Westen wären dies immer noch etwa 75 Prozent. "Und das sind Zahlen der offiziellen türkischen Statistik", so die türkische Karrierefrau, die sich auch im Fernsehen für die Gleichberechtigung stark macht."Der Staat muss die Gesetze zur Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Ehe endlich umsetzen", fordert Hülya Gülbahar. "Zwar gibt es Gerichte und Polizeiwachen, die der Gewalt an Frauen nachgehen, es gibt aber auch solche, die dies als Kavaliersdelikt abtun und die Betroffenen nach Hause schicken."
Momentan gehe ein Ruck durch die türkische Gesellschaft, Befürworter und Gegner der Frauenfrage führten öffentliche Streitgespräche. Dieser Diskurs und die Tatsache, dass Frauen auf die Straße gingen, um auf Missstände aufmerksam zu machen, selbst wenn Demonstrationen gewaltsam aufgelöst werden, sei ein enormer Fortschritt. "Derzeit wird dafür gekämpft, dass eine Frauenquote in der Politik eingeführt wird", sagt die 46-jährige Gülbahar. "Die Türkei ist an einem Punkt angelangt, wo sich zahlreiche Bürger eine Abkehr von der Tradition und eine weitgehende Modernisierung wünschen."
Schätzungsweise jede fünfte Frau in der Türkei ist Analphabetin. Eine Zahl, welche die junge Pinar nicht verwundert. "Mein Vater ließ mich nur bis zur fünften Klasse die Schule besuchen", blickt die 20-Jährige auf ihre Kindheit zurück. "Für ihn stand fest, dass ich keine Ausbildung brauche, denn ich würde ja heiraten und Kinder kriegen." Von ihrer Mutter konnte sie kein Verständnis erwarten. "Sie ging nie zur Schule, sie war Analphabetin", erzählt die junge Frau. Heute hat Pinar in einem der landesweit 30 Frauenhäuser Zuflucht gefunden. "Ohne diesen Ort, an dem ich kostenlos schlafen und essen kann, müsste ich zurück zu meinem Ehemann", sagt sie. Sie belegt einen Computer-Kurs, mit dem sie sich beruflich qualifizieren will. Denn abhängig will Pinar nicht mehr sein. Sie möchte ihren eigenen Weg gehen. Deshalb versucht sie, sich von ihrem Mann scheiden zu lassen - und was war, hinter sich zu lassen.