Litauen

Stadt der Engel und zweitkleinster Staat Europas

Stadt der Engel und zweitkleinster Staat EuropasUžupis, das ehemalige Armenviertel der litauischen Hauptstadt Vilnius, entwickelt sich vom heruntergekommenden Elendsquartier zum mondänen Künstlertreff – und hat einen eigenen Staat ausgerufen.Vilnius (n-ost) – Die litauische Hauptstadt Vilnius profitiert wie keine andere Stadt des Landes von dem neuen Wirtschaftsboom infolge des EU-Beitritts: Hochhäuser schießen geradezu wie Pilze aus dem Boden, und die Grundstückpreise haben fast westeuropäisches Niveau erreicht. Und als europäische Kulturhauptstadt 2009 erhofft sich die Stadt einen weiteren Zuwachs an Touristen und verstärkte internationale Aufmerksamkeit.Verlässt man jedoch das pulsierende Geschäftszentrum und taucht in die barocke Altstadt mit ihren niedrigen Häuschen ein, findet man noch geradezu beschauliche Ecken. Und steigt man zum Ufer des flachen, gewundenen Flüsschens Vilnia oder Vilnelė herab, von dem Vilnius seinen Namen erhalten hat, wähnt man sich schon fast wie auf dem Dorf. Bevor man aber das Zentrum des Staates Litauen verlässt, wird man durch ein Schild darauf aufmerksam gemacht, dass man sich in einen weiteren Staat begibt: Unmittelbar vor der Brücke zu dem auf der anderen Flussseite gelegenen Stadtteil Užupis (= „Hinterfluss“) prangt ein Schild mit der Aufschrift „Užupio respublika“ (Republik Užupis) – ein eigener Staat, wie die Einwohner dem Besucher eifrig versichern.Freilich wird dieser von niemandem ernsthaft anerkannt, und nicht einmal seine eigenen Bewohner würden tatsächlich die volle Souveränität einfordern: Mit einer Fläche von nur 0,6 Quadratkilometern ist Užupis nur wenig größer als der Vatikan. Aber es ist nicht nur die Vilnia, die die rund 7.000 Bewohner von Užupis vom Zentrum der litauischen Hauptstadt trennt: Vielmehr sieht sich der Stadtteil auch als tolerantes und kreatives Zentrum, das von deutlich mehr Mystik und Romantik getragen ist als Vilnius. Užupis verfügt über eine eigene Verfassung, eine Hymne, einen Präsidenten, einen Premierminister und Botschafter in zahlreichen Ländern (darunter den Dalai Lama), ja sogar einen eigenen Kalender gibt es und den 1. April als Nationalfeiertag. Und welcher Staat hat schon in seiner Verfassung verankert, dass jeder das Recht auf Individualität hat, aber nicht allein zu sein braucht? Und dass es nicht nur ein Recht auf Glück gibt, sondern auch darauf, unglücklich zu sein?
Uzupis vor der Sanierung
Berthold Forssmann

Unbestreitbares Zentrum von Užupis ist das Café „Užupio kavinė“, ursprünglich ein heruntergekommener Bau am Flussufer, inzwischen ein mondänes Lokal mit einem Biergarten über dem Fluss. Und während die Vilnia um die Stelzen der Terrasse murmelt, debattiert und plauscht auf den Bänken die Künstlerszene der Stadt. Geht man ein paar Schritte weiter in Richtung Bernhardiner-Friedhof, gelangt man zu einem kleinen, von prächtig sanierten Häusern umgebenen Platz mit der Staute eines Engels. Nach dieser hat der Stadtteil seinen zweiten Namen: „Stadt der Engel“.Dabei gab es Zeiten, da machte man um Užupis lieber einen weiten Bogen. Der ursprünglich überwiegend von Juden bevölkerte Stadtteil verwahrloste nach der Deportation der Bewohner durch die Nazis. Asoziale, Kriminelle und Prostituierte bezogen die leer stehenden Häuser. Noch vor zwanzig Jahren gehörte das Viertel zu den gefährlichsten Gegenden der Stadt und war geradezu das Symbol für Ärmlichkeit und Verfall. Aber gerade deshalb sorgte Užupis auch stets für eine gewisse Faszination. Kein Geringerer als der litauische Schriftsteller und Klassiker Jurgis Kunčinas (1947-2002) widmete dem heruntergekommenen Stadtteil mehrere Werke, darunter seinen Roman „Blanchisserie“. Zwar beklagt er darin: „Farbe gibt es in Užupis immer weniger, das Haus von Tūla hat man in eine ungemütliche Werkstatt umgewandelt, die Leichenhalle ist in die Nordstadt verlegt worden, und die onkologischen Schlachthöfe heißen jetzt 'Klinik zur Krebsvorsorge'. Trotzdem zieht es alle hierher …“ Und weiter heißt es: „Alle Neuerungen wirken in diesem Užupis wie unheimliche Fremdkörper oder Prothesen, mehr als anderswo.“ Aber über weite Passagen hinweg ist „Blanchisserie“ das reinste Liebeslied an Užupis: „Jeder sieht auf den ersten Blick, dass Užupis herzlicher und aggressiver ist: mehr Element, mehr vergossenes, tollwütiges Blut und mehr unvorhergesehene Naturkatastrophen.“ Und gleichzeitig hat Kunčinas schon vor zehn Jahren die Entwicklung vorausgeahnt und satirisch übertrieben: „Seien Sie vorsichtig, wenn Sie sich nach Užupis begeben. Das Viertel hat sich gewaltig verändert. Užupis ist innerhalb weniger Monate das reinste Hongkong geworden, der Quadratmeter Boden kostet mittlerweile zehntausend Dollar, und der Preis steigt noch!“, wird der der arglose Besucher gewarnt.Tatsächlich hat Užupis nach der Wende immer mehr Studenten, Künstler und Bohemiens angezogen. Diese ließen sich von der legeren Toleranz des Viertels anlocken, der Nähe zur Kunstakademie, den niedrigen Mietpreisen und nicht zuletzt den pittoresken niedrigen Barockhäuschen und der romantischen Lage in einer Flussschleife. Wer hierher kam, suchte keinen Komfort, sondern Ursprünglichkeit und Extravaganz. Und tatsächlich entstehen seit wenigen Jahren in Užupis immer mehr Galerien, Künstlerwerkstätten und Salons, und in kaum einem Stadtviertel könnte der Kontrast aus ärmlichen Behausungen und Luxuswohnungen größer sein als hier. „In Užupis ist alles möglich und denkbar“, heißt es auf der Homepage des Staates. „Wir sind vergleichbar mit dem Montmartre in Paris und mit Christiania in Kopenhagen. Aber das Zeichen von Užupis ist die offene Hand, und das bedeutet, dass wir offen sind, nicht nur für Vilnius und Litauen, sondern für die ganze Welt. In Užupis kann jeder leben, schöpferisch tätig sein und lieben – aber er kann niemals Užupis besitzen. Denn Užupis ist kein Ort der physischen oder psychischen Abhängigkeit.“ENDE-------------------------------------------------------------
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