Lettland

Forscher aus den drei baltischen Staaten stellen KGB-Akten ins Internet

Nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit ihrer Länder betreiben Historiker aus den drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen nun gemeinsam die Aufarbeitung der Sowjetvergangenheit – durch eine Seite im Internet.Vilnius (n-ost) – Sechzehn Jahre nach der erneuten Unabhängigkeit der drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen gibt es noch immer viele ungeklärte Punkte bei der Aufarbeitung der Sowjetvergangenheit. Nun hat das litauische „Zentrum für die Erforschung des Genozids an litauischen Bürgern und des Widerstands“ LGGRTC (www.genocid.lt) einen  Vorstoß für die Erforschung dieses dunklen Kapitels der Geschichte unternommen und eine Internetseite ins Leben gerufen. In Zusammenarbeit mit Historikern aus Estland und Lettland sollen Verbrechen gegen die Menschlichkeit in allen drei baltischen Staaten anhand von KGB-Dokumenten aufgearbeitet werden. „Hauptziel unseres Projekts ist es, der Öffentlichkeit einen Zugang zu den KGB-Akten zu ermöglichen, die die baltischen Staaten betreffen“, sagt LGGRTC-Direktorin Dalia Kuodytė. Zwar sei in den Archiven der baltischen Staaten nur ein Teil der Akten verblieben, aber das Projekt könne dennoch entscheidend zur Aufarbeitung der Vergangenheit beitragen: „Wenn wir sie an einem Ort konzentrieren, haben wir einen Überblick über die KGB-Aktivitäten in den baltischen Staaten.“Die neue Internetseite http://kgbdocuments.eu stößt dabei laut Kuodytė auf reges Interesse: „Wir haben in Litauen eine neue Debatte angestoßen, und es herrscht die Ansicht vor, dass diese überaus positiv und nützlich ist. Gespräche mit russischen Journalisten zeigen überdies, dass das Thema auch dort auf Resonanz stößt.“ Allerdings musste erst das litauische Archivgesetz geändert werden, um den Zugang zu den Akten des KGB und der litauischen Kommunistischen Partei zu ermöglichen.Auf estnischer Seite ist der Kooperationspartner das Institut zur Erforschung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit IKUS (http://www.historycommission.ee). Indrek Jürjo, Archivar aus Estland, zeigt sich überzeugt davon, dass das Projekt auch in seinem Land noch weitere Kreise ziehen wird, denn im estnischen Staatsarchiv schlummere noch jede Menge Material, das auf diese Weise an die Öffentlichkeit gebracht werden könne. „Der Großteil der KGB-Archive ist aus dem Land gebracht worden, aber es ist trotzdem einiges hier geblieben – immerhin einige hundert laufende Meter Akten“, so Jürjo. Schon 1994 habe das estnische Parlament ein entsprechendes Gesetz verabschiedet, das Forschern den Zugang gewährt. Und Meelis Saueauk, der für Estland zuständige Koordinator des Projekts, erklärt: „Wir wollen gemeinsam mit den Litauern eine Datenbasis schaffen und auch Forschern aus anderen Ländern Zugang zu dem Material gewähren, auch wenn dabei nicht unbedingt große Sensationen zu erwarten sind.“Als Grund für die Zurückhaltung nennt Saueauk die Tatsache, dass zahlreiche KGB-Akten seit der Wende spurlos verschwunden sind. Was mit ihnen passiert ist, soll nun ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss klären. Inzwischen mehren sich die Hinweise, dass sogar schon 1989, zwei Jahre vor der endgültigen Unabhängigkeit Estlands, ein wesentlicher Teil der Archive nach Russland gebracht wurde, vor allem mit den persönlichen Daten von rund 13.500 Agenten – Stoff genug für künftige Verdächtigungen und Spekulationen.In Lettland schließlich beteiligt sich das „Zentrum zur Dokumentierung der Folgen von Totalitarismus“ (TSDC) an dem Projekt. „Wir sehen unsere Aufgabe darin, der russischen Propaganda entgegenzuwirken. Die Internetseite ist kein Versuch irgendwelcher Enthusiasten, sondern ein ernsthaftes Projekt aus allen drei baltischen Staaten. Historiker aus allen drei Ländern haben unter russischen Behauptungen leiden müssen, es habe keine Besetzung der baltischen Staaten gegeben. Wir sind diese Polemik leid“, sagt TSDC-Mitarbeiter Ritvars Jansons nach einem Treffen von Vertretern aus allen drei Ländern. Bislang sei es Litauen, das die Finanzierung des Projekts übernehme, doch hoffe man auf Beihilfen seitens der EU. Immerhin bestehen konkrete Aussichten, dass die Seite von großer Wichtigkeit für die Aufarbeitung der Vergangenheit wird: „Es ist mehr als klar, dass Russland selbst in der näheren Zukunft kein solches Projekt starten wird“, sagt Jansons. Bislang lägen bereits Anfragen aus Schweden, Großbritannien und den USA von Interessenten vor.Unterdessen fehlt es auch nicht an Kritik an dieser Form der Vergangenheitsbewältigung. Insbesondere in Lettland schlägt der Versuch der Offenlegung der in dem Land verbliebenen KGB-Akten hohe Wellen. So gab es bereits mehrfach Versuche des parlamentarischen Justizausschusses, die Namen der früheren Geheimdienstmitarbeiter zu veröffentlichen, ohne jedoch deren Tätigkeiten näher zu beschreiben. Kritiker hoben jedoch daraufhin hervor, dass die in Lettland verbliebene Kartei nur ein Bruchteil des ursprünglichen Materials darstelle und damit bestenfalls als Wahlkampfmunition tauge. Gerade die Namen der besonders zentralen Personen seien in den Unterlagen nicht enthalten, während nun die weniger zentralen KGB-Mitarbeiter von Stigmatisierung bedroht seien. Außerdem sei die Frage nicht geklärt, wie eigentlich mit den enttarnten ehemaligen KGB-Leuten zu verfahren sei. „Sollen wir sie verachten, sie als schädliche und gefährliche Elemente betrachten und aus der Gesellschaft ausschließen? Und was soll mit all den Tausenden geschehen, die dem Druck nachgaben und bei der Suche nach besseren Lebensbedingungen der Partei beitraten und dort ihre Pflicht erfüllten? Wodurch unterscheiden sich abgesehen davon diese Karrieristen der Sowjetzeit von den Karrieristen von heute?“, fragt beispielsweise Zanda Arnicane, Kommentatorin der lettischen Zeitung „Neatkarīga Rīta Avīze“.Die Unterlagen erscheinen auf der neuen Internetseite in eingescannter Form im russischen Original sowie in englischer Übersetzung. Bislang handelt es sich um rund 20 Dokumente aus Litauen aus dem Zeitraum 1953 bis 1985, doch soll das Material schrittweise erweitert werden. Estland, Lettland und Litauen wurden infolge des Hitler-Stalin-Pakts 1940 der Sowjetunion angegliedert. 1941-1944/45 wurden die drei Staaten von der deutschen Wehrmacht besetzt, bevor die Rote Armee erneut die Kontrolle gewann. Bis heute ist die Frage zwischen den baltischen Staaten einerseits und Russland andererseits umstritten, ob der Beitritt zur Sowjetunion freiwillig oder unter Zwang erfolgte.ENDE-------------------------------------------------------------
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