Rakete auf der Haseninsel
Der höchste Turm der EU steht in der lettischen Hauptstadt RigaFunksignale von der "Haseninsel"Riga (n-ost). "Sind Sie das erste Mal in Riga?", fragt der blasse Student im Bus. "Ja", antworte ich. "Zum Fernsehturm wollen Sie?" Er zeigt aus dem Busfenster, die elegante Silhouette ist von weitem zu sehen: Drei Beine, das Bauwerk sieht aus wie eine Kreuzung aus Eiffelturm und Rakete. "Kommen Sie mit, ich bringe Sie hin", sagt der junge Mann. "Zakusela", sagt er, "da müssen wir raus". Wir steigen aus dem Bus Nummer 40, über Treppen geht es von der Brücke über die Daugava, hinunter auf die "Haseninsel". Wir trotten zwischen Sträuchern und Wohlstandsmüll entlang, immer auf den Turm zu. Von Hasen keine Spur. Nur gelegentlich kommt ein Auto vorbei, hält an. Fahrschüler üben Einparken. Je näher wir kommen, desto tiefer muss ich meinen Kopf in den Nacken legen. Der "Rigas radio un televizijas tornis" ist gigantisch groß. Noch 100 Meter bis zum Turm. Mein Führer zeigt auf das Bauwerk, als ob man es verfehlen könnte. "Da ist er". Dann kehrt er um. "Danke". Kurzer Gruß. Alleine trotte ich weiter.100 Meter in 42 SekundenAm Fuß des Turms sitzt eine junge Blondine in einem Glaskasten. "Ich bin Ines", sagt sie, kassiert 2 Lats, umgerechnet etwa 2 Euro 50. "Ich arbeite erst seit ein paar Wochen hier", entschuldigt sich die Frau. Eine Führung? "Kein Problem." Vorbei geht es an einem mannshohen Modell des Turms, zum Fahrstuhl. "Er ist 368,5 Meter hoch - damit ist er der drittgrößte Turm Europas - und weltweit der fünftgrößte. Ganz schön hoch, nicht wahr?" Treuherzig klimpert sie mit den Augendeckeln. EU-weit ist der Fernsehturm von Riga sogar der höchste - und überragt damit den Berliner Fernsehturm auf dem Alexanderplatz um einen halben Meter. Der Aufzug kommt. Eine silberne Röhre. Ein leises Surren. Der Magen sackt etwas tiefer. "42 Sekunden braucht er bis zur Aussichtsplattform", erklärt Ines. Die Tür geht auf. Wir stehen 97 Meter über dem Boden, durch verschmierte Fenster kann ich die Altstadt von Riga sehen, die Brücke über die Daugava, über die Busse und PKWs fahren. Jenseits des Flussufers schimmern die goldenen Zwiebeltürme einer orthodoxen Kirche. "Bei gutem Wetter kann man bis nach Sigulda schauen", sagt Ines. Das Städtchen ist 50 Kilometer entfernt. Oder bis zum Rigaer Meerbusen. Doch heute ist die Sicht nicht so gut. Zu viele Wolken. Und zu wenig Fensterreinigung. "Die Fenster werden von außen geputzt", sagt Ines. Das ist teuer. "Deswegen kommen die Fensterputzer nur alle vier bis sechs Jahre." Fenster putzen in 97 Meter Höhe - kein Job für mich. Ich bin nicht schwindelfrei.
Fernsehtrum in Riga
Stephan OzsváthDer Koloss von RigaEin paar Meter tiefer gab es einmal ein Restaurant, "Veja Roze", zu deutsch "Windrose". Die Räume stehen derzeit leer, sagt Ines. Die Betreibergesellschaft des Turmes sucht einen neuen Investor. Aber das ist ohnehin nur die Sättigungsbeilage. Das Herzstück des Fernsehturms hängt über uns. "Hier sind alle Instrumente und Technologien drin. Wenn Sie wollen, können wir hochfahren, bis auf 200 Meter Höhe und mehr. Aber das machen eigentlich nur die Leute, die hier arbeiten", beruhigt mich Ines. Die letzten 44 Meter zur Antennenspitze lassen sich nur über die Innen-Treppe zurücklegen. Nichts für Leute wie mich, denen schnell schwindelig wird. Sankt Petersburger Kletterer waren es, die auf dem Mittelteil des Turms 62 Tonnen Rostschutz verstrichen haben.Aufwändige Bauarbeiten1979 begann der Bau nach den Plänen des Rigaer Architekten-Teams um Gunars Asaris, der erste Entwurf stammte von dem Georgier K. Nikuradze. Die Bauarbeiten waren aufwändig und teuer. Da die "Haseninsel" nur gut sieben Meter über dem Meeresspiegel liegt, mussten massive Fundamente eingelassen werden. Die Bodenplatte in 27 Meter Tiefe besteht aus Dolomit von der estnischen Ostseeinsel Saaremaa. Der Stahl stammt aus dem russischen Tscheljabinsk. Auch karelischer Granit wurde verbaut. Eine solide Konstruktion. Angeblich soll der Fernsehturm Erdbeben der Stärke 7,5 aushalten und auch bei Windgeschwindigkeiten von 44 Meter pro Sekunde nicht wackeln. Dafür hängen drei jeweils 10 Tonnen schwere Pendel in 198 Meter Höhe, die die Schwingungen des Bauwerks ausgleichen sollen. "Lettland brauchte den Turm einfach", erklärt Ines. Im Januar 1986 konnte auf Kanal 28 erstmals gesendet werden. "Letztes Jahr haben wir eine schöne Party gefeiert: 20 Jahre Fernsehturm", sagt die Führerin und zeigt auf ein Foto, das in der Aussichtsplattform hängt: der Fernsehturm als majestätischer Fixpunkt eines Feuerwerks. Futuristisch. Modern.Der Turm: Lettlands wichtigstes KommunikationsmittelIm Unabhängigkeitskampf der Letten spielte der Fernseh-Turm eine Hauptrolle. Als die Bevölkerung von Riga Anfang der 90er Jahre Barrikaden baute, um sich vor russischen Spezial-Einheiten zu schützen, gab der damalige Vorsitzende der Volksfront-Regierung, Romualdas Razukas, die Losung aus: "Schützt vor allem Radio und Fernsehturm". Sein Aufruf war berechtigt, denn der Fernsehturm in der litauischen Hauptstadt Vilnius wurde zum Schauplatz blutiger Auseinandersetzungen, als am 13. Januar 1991 sowjetische Panzer in die Stadt rollten. Neben dem Parlament wollten die Russen auch den Fernsehturm besetzen. Zivilisten, die eine Menschenkette um den Turm gebildet hatten, wurden überrollt.Der "radio un televizijas tornis" von Riga ist aus den Wohnzimmern der Letten heute nicht mehr wegzudenken. Von der lettischen Hauptstadt aus versorgt er mittlerweile mehr als die Hälfte der Bevölkerung mit Fernseh- und Radioprogrammen. Handynutzer sind auf ihn angewiesen, außerdem sind Fernmeldeeinrichtungen des Militärs, der Stadtverwaltung von Riga, der Flugnavigation und eines Stromversorgers im Turm untergebracht.Und auch, wenn er von den Tourismus-Werbern vernachlässigt wird - die Besucher finden den Rigaer Fernsehturm. Zu übersehen ist er schließlich nicht. "Seit dem EU-Beitritt kommen viele Touristen hierher", erzählt Führerin Ines. "Sie besuchen den Fernsehturm, denn alle wissen: Riga ist von oben doppelt schön."ENDE---------------------------------------------------------------------------
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