Zweite Chance für Orange?
Ob Sie am Sonntag wählen geht? Tanja, 34 Jahre, Sekretärin in einem Kiewer Anwaltsbüro, schaut erstaunt: "Kann sein - aber eher nicht. Wir wollen in die Pilze." Die Saison hat begonnen und die Städter schwärmen an den Wochenenden in die umliegenden Wälder, um die schmackhaften Pflänzchen zu ernten und einzuwecken - trotz Tschernobyl. Vorräte für den Winter anlegen, das ist für Tanjas Familie immer noch ein notwendiger Teil des Alltags. Auch wenn die Wirtschaft in den letzten Jahren um sechs bis sieben Prozent jährlich wächst, müssen die meisten Ukrainer weiter für ein besseres Leben kämpfen. Die Erwartungen an die Politik sind dabei denkbar gering.
Die vorgezogenen Parlamentswahlen, immerhin der fünfte Urnengang innerhalb der letzten vier Jahre, lassen deshalb nicht nur Tanja kalt. Vor allem in den russischsprachigen Regionen des Landes im Süden und Osten, Hochburgen der "blau-weißen" Partei des Premierministers Wiktor Janukowitsch, schlägt die Unzufriedenheit über die Lebensverhältnisse zunehmend in Apathie um.
Wahlplakate in Kiew / Clemens Hoffmann, n-ost
Janukowitsch kann das nicht recht sein. Eine geringe Wahlbeteiligung käme vor allem dem "orangenen" Lager seines ärgsten Widersachers Wiktor Juschtschenko zugute, das seine Anhänger verhältnismäßig besser mobilisieren kann. Doch auch hier sind viele enttäuscht. Im April hatte Präsident Juschtschenko das ukrainische Parlament für aufgelöst erklärt, nachdem Abgeordnete seines zersplitterten Parteienbündnisses "Unsere Ukraine" ins Regierungslager gewechselt waren. Daraufhin spitzte sich der Dauerstreit um Machtbefugnisse zwischen Präsident und Regierung bis an den Rand einer Staatskrise zu. Schließlich einigte man sich auf einen Wahltermin Ende September.
In Kiew verlief der Wahlkampf bislang weitgehend lustlos. Einzig Janukowitschs Partei der Regionen, die in der Hauptstadt traditionell nur wenig Anhänger mobilisieren kann, zeigte etwas deutlichere Präsenz auf den zentralen Plätzen und an U-Bahn-Stationen. Hauptsächlich wurden Prospekte verteilt. Als offenes Geheimnis gilt, dass die Teilnehmer an den kleineren und größeren Werbe-Aufmärschen bezahlt werden. Zehn bis 15 Euro für drei Stunden Einsatz sind drin. "Meistens kann man einfach rumstehen, rauchen, mit Freunden reden und kriegt Geld dafür- das ist ein Job für uns", sagt Studentin Olga. Sie steht vor einem blauen Werbezelt auf dem Unabhängigkeitsplatz "Maidan" und überbrückt die drei Stunden mit der Parteifahne in der Hand auf ihre Weise: mit leiser Musik aus dem Handy-Radio. Nach dem Mittagessen bei McDonald's will sie mit einem Freund zu den Orangen weiterziehen. Dort gibt es noch mal 100 ukrainische Hryvnja (etwa 14 Euro) für den halben Tag.
Fast alle Parteien zahlen für ihre "Demonstranten". Das Geld stammt von reichen Geschäftsleuten, die dem einen oder anderen Lager nahe stehen. Die ukrainischen Studenten, die oft mit weniger als 100 Euro im Monat über die Runden kommen müssen, verdienen sich so ihr Wohnheimzimmer, andere sparen auf ein altes Auto. Studentin Olga macht sich keine Illusionen: "Die Parteien interessieren sich gar nicht für unsere Meinung, ob wir ihnen nahe stehen oder nicht - sie brauchen uns nur als Masse.
"Programmatische Unterschiede lassen sich nur in Nuancen erkennen. Alle Blöcke überbieten sich mit Versprechungen sozialer Wohltaten, von denen niemand weiß, wie sie finanziert werden sollen. Müttern werden für die Geburt ihres ersten Kindes umgerechnet 1500 Euro geboten, fürs zweite schon 2000, für das dritte sogar 7000 Euro. Höhere Renten, bessere Stipendien, kostenlose Gesundheitsversorgung, die Liste ließe sich fortsetzen. Schillerndste Figur der orangen Kräfte ist auch diesmal Oppositionsführerin Julia Timoschenko, Anführerin des gleichnamigen "Block Julia Timoschenko" (BJuT). Die von ihrem früheren Verbündeten Juschtschenko im Jahr 2005 als Ministerpräsidentin entlassene Timoschenko kämpft in diesen Tagen um die Stimmen enttäuschter "Blau-Weiß"-Wähler im Osten, im Zentrum und im Süden des Landes.
Unermüdlich tourt die charismatische Frau mit dem Ährenkranz-Zopf durch die Hochburgen der Partei der Regionen und verspricht den Kampf gegen die Korruption aufzunehmen und für bessere Lebens- und Wirtschaftsbedingungen zu sorgen. Und die mitunter messianisch anmutenden Auftritte verfehlen ihre Wirkung nicht: Der "Julia-Faktor" zieht auch in früheren Bastionen der Blau-Weißen. Die Zustimmung wächst.
Umfragen - auch sie sind in der Ukraine käuflich und daher mit Vorsicht zu genießen - geben Timoschenko zwischen 20 und 26 Prozent. Das ist immer noch ein gutes Stück hinter der Partei der Regionen, die 2006 mit 32 Prozent siegte, und der erneut um 30 Prozent zugetraut werden. Aber der Abstand ist geschrumpft. Der präsidententreue Block "Unsere Ukraine/Selbstverteidigung des Volkes", zu dem sich zehn Kleinstparteien vereinigt haben, wird mit zehn bis zwaölf Prozent wohl an dritter Stelle ins Ziel kommen. Von den anderen 17 Parteien auf dem Stimmzettel haben nur die Kommunisten, derzeit in der Regierung mit der Regionen-Partei, reelle Chancen, die Drei-Prozent-Hürde zu überspringen und im neuen Parlament ("Werchowna Rada") vertreten zu sein. Die Sozialisten von Parlamentspräsident Oleksander Moroz, die durch ihren Wechsel von orange ins blau-weiße Lager Ministerpräsident Janukowitsch ins Amt verhalfen, werden wohl aus dem Parlament fliegen.
Mehr als zehn Prozent der Wähler waren zuletzt aber noch unentschieden.
Es ist bereits abzusehen, dass die Wahlverlierer das Ergebnis nicht anerkennen werden. Denn bereits im Vorfeld häufen sich wieder Hinweise auf Wahlfälschungen. Anders als noch 2006 werden diese Vorfälle in der Öffentlichkeit breit diskutiert. Denn alle Parteien sammeln bereits "Munition" für den Tag nach der Wahl, um das Ergebnis notfalls anfechten zu können.Die größten Sorgen bereiten internationalen Beobachtern die "wandernden Wahlurnen": Ein Teil der Wahlhelfer schwärmt am Wahltag mit einem Stapel Blankowahlscheinen und einer mobilen Sammelbox aus, um Alte oder Kranke zuhause abstimmen zu lassen. Eine "Versuchung" für Wahlfälscher: Schnell in einer dunklen Ecke ein paar Wahlzettel ausgefüllt, und die Urne ist noch ein bisschen voller, wenn sie zurück ins Wahllokal gebracht wird.
Das "unabhängige ukrainische Wählerkomitee" (UUW) rechnet außerdem damit, dass bis zu 50.000 Stimmen am Wahltag "gekauft" werden. Gegen Vorlage eines Handyfotos vom "richtig" ausgefüllten Wahlzettel gebe es von Unterhändlern der Parteien bis zu 15 Euro bar auf die Hand. Weiteres Problem: Gefälschte Wählerlisten. In der Region Charkiv fand das UUW nach gezielten Hinweisen eine große Zahl bereits Verstorbener auf den offiziellen Wählerlisten. Gravierende Auswirkungen haben aber auch die im Juni 2007 noch eilig verabschiedeten Änderungen am Wahlgesetz. So darf jeder nur an dem Ort wählen, an dem er registriert ist, eine Briefwahl gibt es nicht. Studenten oder Berufspendler, die in anderen Teilen des Landes leben, und am Wahltag nicht zuhause sind, werden so ihres Wahlrechts beraubt. Ebenso alle, die im Ausland waren und erst kurz vor den Wahlen zurückkehren.
UUW-Sprecher Oleksander Chernenko rechnet mit bis zu 1,5 Millionen Ukrainern, denen durch diese Regeln ihr Wahlrecht vorenthalten wird.
Derzeit wagt niemand vorherzusagen, welches Bündnis nach den Wahlen regieren wird. Eine Ministerpräsidentin Timoschenko als Kopf eines versöhnten und erstarkten orangen Lagers scheint ebenso denkbar wie eine Fortsetzung der bestehenden Koalition aus Blauen und Kommunisten (ohne Sozialisten). Dies allerdings würde postwendend neue, lähmende Konflikte mit Präsident Juschtschenko heraufbeschwören. Für die Ukraine wäre dies fatal. Konfliktfrei wird aber auch ein neu aufgelegtes oranges Bündnis wohl kaum regieren. Sekretärin Tanja würde ihre Stimme übrigens am liebsten Julia geben, "weil sie eine starke Frau ist". Allerdings soll es am Sonntag soll noch einmal herrliches Spätsommerwetter geben. Gute Aussichten für Pilzsammler. Schlechte für Julia.