Adebar nimmt Abschied von Europa
Ein Storch auf dem Dach bringt Glück, sagt eine alte Binsenweisheit. Wenn es danach ginge, müssten die Bewohner des kroatischen Dorfes Cigoc ein Dauerabo besitzen – denn nirgendwo sonst in Europa gibt es so viele Nester von Weißstörchen auf engstem Raum. Eine einzige Straße, gerade mal einen halben Kilometer lang, gesäumt von jahrhundertealten Eichenhäusern im Posavina-Architekturstil, knapp 100 Einwohner und stolze 56 Horste, in denen sich in diesem Jahr allerdings nur 26 Paare niedergelassen haben – so sieht das erste Europäische Storchendorf aus, das diesen Titel seit nunmehr 13 Jahren trägt. Das es von Jahr zu Jahr weniger Tiere werden, liege daran, dass sich die Störche auch in einem Nachbardorf niedergelassen hätten, so die Mitarbeiterin Valerija Hima im Naturpark Lonjsko Polje. Immerhin wurden in diesem Sommer 70 Jungtiere auf den Dächern von Cigoc geboren.
Cigoc Schwarzstorch / Nevenka Rastovac, n-ost
Auf so engem Raum biegen sich schon mal die sprichwörtlichen Balken, vor allem, wenn zwei Paare auf dem gleichen Dach nisten. Nevenka Rastovac zeigt auf einen Schuttberg, das frühere Haus ihres Nachbarn. „Nun ist es unter der Last des Storchennestes eingestürzt“, erzählt die Leiterin des örtlichen Tourismusvereins. Ein Nest kann schon mal ein bis zwei Tonnen wiegen und bis zu vier Meter tief sein. Dabei verarbeitet der schwarz-weiße Vogel alles, was er zum Nestbau findet. Auch Nevenkas Handfeger und der Pullover eines Dorfbewohners, den er während der Gartenarbeit über den Zaun gehängt hatte, sind auf diese Weise schon abhanden gekommen. Schon in wenigen Tagen dürfte allerdings wieder Ruhe im Dorf ein – denn wie jedes Jahr zwischen Mitte und Ende August machen sich die Zugvögel auf ihren 10.000 Kilometer langen Zickzack-Flug nach Südafrika auf.
Doch warum kehrt Adebar eigentlich so gerne nach Cigoc zurück? Das Dorf liegt inmitten des Naturparks Lonjsko Polje, einem relativ unbewohnten Sumpfgebiet nahe der bosnischen Grenze. Landwirtschaft wird hier unter Einsatz von wenig Pestiziden betrieben, extensiv – auch wenn sie den meisten Menschen in der Region ihr Auskommen sichert. Die Natur sei hier noch weitgehend unberührt. Hier finde der Storch eine gute Nahrungsgrundlage, wie Frösche, Ringelnattern oder Wühlmäuse, erklärt Kresimir Mikulic vom Kroatischen Ornithologischen Institut in Zagreb. Der Naturpark Lonjsko Polje gilt als eines der letzten großen Überschwemmungsgebiete in Europa. Das mehr als 500 Quadratkilometer große Schutzgebiet durchziehen fünf Flüsse: Sava, Una, Kupa, Lonja und Struga. Drei Milliarden Kubikmeter Wassermassen kann die bedrohte Auenlandschaft aufsaugen. In den 1970er Jahren wurden hier ein Kanal und ein Damm gebaut, um den Flüssen das Wasser zu entziehen und die Dörfer vor Hochwasser zu bewahren. Früher habe man den Mais im Herbst vom Kahn aus geerntet, erinnert sich ein Dorfbewohner.
Das Wahrzeichen des Naturparks ist jedoch nicht der Storch, sondern der bedrohte Löffelreiher. Gut 80 Paare nisten in der Ortschaft Krapje Dol, fast ein Zehntel der gesamteuropäischen Population. Überhaupt ist der Naturpark ein Paradies für Vogelkundler. In zwei ornithologischen Stationen werden 240 Vogelarten beobachtet, darunter sind auch seltene Arten wie die Moorente oder der sehr menschenscheue Schwarzstorch – der in Cigoc neben dem Weißstorch gesichtet wurde. Eine absolute Seltenheit, die eigentlich nie vorkommt, bestätigen Ornithologen.Im Naturpark sind auch autochtone Rassen wie das Turopoljer Schwein beheimatet, das früher vor allem wegen seines hohen Fettgehalts von 70 Prozent gezüchtet wurde. Noch heute gilt das Fleisch als besonders wertvoll, da sich die Rasse in der freien Natur hauptsächlich von Bucheckern, Eicheln und Kamille ernährt. 550 Pflanzenarten stehen ihm dabei hier zur Auswahl.
Einzigartig ist auch das Posavina-Pferd, das kleiner aber umso kräftiger als die landläufig bekannten Pferderassen sind. In den 1970er Jahren wurde es vom Traktor verdrängt, ein Jahrzehnt später entdeckten es italienische Gourmets als Salami-Lieferanten. Mittlerweile hat sich die Population auf 1.500 Tiere eingependelt, die Haltung wird staatlich gefördert. Doch nicht alles im Naturpark ist so idyllisch, wie es auf den ersten Blick scheint: Zahlreiche Landminen aus dem jüngsten Bürgerkrieg befinden sich bis heute entlang des linken Ufers der Sava, die Kroatien hier von Bosnien-Herzegowina trennt. Betroffen sind auch Teile nördlich der Ortschaft Jasenovac, dem östlichen Eingangstor zum Naturpark. Minen seien auch in den Parkabschnitten Mokro Polje und Poganovo Polje zu finden, die Räumung habe hier Prioriät, erklärt Marta Kovacic vom Kroatischen Minenräumzentrum in Sisak. Dort schätzt man die Fläche potenzieller Minenfelder auf elf Millionen Quadratmeter – allein auf dem Gebiet des weitgehend unberührten Naturparks Lonjsko Polje. Im Storchendorf Cigoc sind derzeit die Augen auf den Kalender gerichtet, denn in den letzten Augusttagen rüsten sich die Störche erfahrungsgemäß zum Flug nach Afrika. Geschieht dies bereits vor dem Bartholomäustag am 24. August, dann rechnen die Einwohner aus alter Erfahrung mit einem langen und strengen Winter.