Türkei

Istanbul – Straßenkino der Gegensätze

Beinahe endlos zieht sich das Wasser am Horizont dahin. Leise waschen die Wogen an den kontinentalen Ufern die Steine blank. Hölzerne Boote wiegen sich im Auf und Ab der Wellen. Fischer bringen im Schein der Abendsonne, begleitet vom Rattern der Schiffsmotoren, ihre Netze aus. Diesel liegt in der Luft und verliert sich ganz allmählich, getragen von einer sanften Brise über jener Meeresenge, die Istanbul in zwei Hälften trennt –dem Bosporus. Aidan hat sich weit nach vorn gebeugt. Meter um Meter läuft das Netz durch seine Hände. Beschwert durch eiserne Gewichte sinkt es auf den Grund der Wasserstraße, die das Schwarze Meer mit dem Marmarameer verbindet. Auf blanken Sohlen bewegt sich der 20-Jährige sicheren Schritts über das nasse Deck. Eilig greift er sich ein zweites Netz, das in den Wellen rasch zur Tiefe sinkt.


Fischbott im Bosporus bei Istanbul / Daniela Haußmann, n-ost

Wie viele andere hat auch Aidan im Alter von 15 Jahren beschlossen Fischer zu werden. Kein einfacher Beruf wie er findet, doch der einzige, der für ihn in Frage kam. „Ich kann weder Lesen noch Schreiben. Eine Schule habe ich nie besucht. Da wurde ich Fischer, auch wenn das Geld kaum zum Leben reicht“, erklärt der junge Mann, dessen Blick für einige Sekunden auf den Stahlriesen verweilt, die in dem maritimen Nadelöhr zwischen Europa und Kleinasien vor Anker gehen. „Auf den Fischfängern verdienen sie rund 1000 Lira im Monat. Ich bin froh, wenn ich auf 600 komme.“

Schemenhaft erheben sich die Prinzeninseln am Horizont in den abendlichen Himmel. Möwen ziehen Kreise über dem kleinen Boot und Aidan hat es sich auf einer Decke bequem gemacht. Das Warten beginnt. Unter Deck kocht Kerim Tee. Wolfsbarsch – Levrek, wie er auf türkisch heißt – hofft der Mann aus Samsun zu fangen. Der 42-Jährige fährt seit 23 Jahren hinaus aufs Meer. Mitunter ist er froh, wenn der Fang die Spritkosten deckt. Am Ufer haben Angler die Ruten ausgeworfen. Pittoresk reihen sich im Lichterglanz die Fisch-Restaurants an den Gestaden des Bosporus auf.

Die Legende sagt, dass Zeus sich unsterblich in die Priesterin Io verliebte. Als seine eifersüchtige Ehefrau Hera auf das Techtelmechtel des Göttervaters aufmerksam wurde, verwandelte er seine Geliebte in eine weiße Kuh, um sie vor seiner Frau zu schützen. Aber Hera, der der griechischen Mythologie zufolge der Schutz über Ehe und Niederkunft obliegt, ließ sich nicht täuschen und verfolgte das Tier durch aller Herren Länder.

Verzweifelt suchte die Priesterin in Gestalt der Kuh ihre Rettung im Wasser. So durchschwamm sie jenen Meeresraum, der seither als Rinderfurt – Bosporus – bezeichnet wird. „Platt gesprochen erklärt sich die Entstehung der rund 30 Kilometer langen und zirka 660 Meter breiten Wasserstraße durch ein in Vorzeiten abgesunkenes Flusstal“, erzählt Kerim, während der Wind orientalische Klänge vom Ufer herüber trägt. „Heute liegt exakt hier die Grenze zwischen Europa und Asien. Damit ist Istanbul weltweit die einzige Stadt, die auf zwei Kontinenten liegt.“ Ein charmanter Umstand, wie der Vater von drei Kindern findet. Währenddessen beginnt der Abend, ein dunkles Tuch über die Stadt am Goldenen Horn auszubreiten.

Stunden verstreichen, bis die Fischer unter knatternden Motoren die Netze einholen. Viel ist es nicht, was ihnen dabei ins Garn gegangen ist. Kleine Krebse krabbeln über die feuchten Dielen, während Kerim mit dem Messer die Fische ausnimmt. Im Hafen von Kumkapi legen bereits die ersten Boote an, um ihren Fang in den frühen Morgenstunden an den Meistbietenden zu versteigern. Istanbul ist derweil auf den Beinen. In den Straßen und Gassen haben die ersten Teehäuser geöffnet. Männer kehren ein. Gespräche bei einer Tasse schwarzem Tee bestimmen das Geschehen. Seine Blätter ziehen in einem kleinen Kännchen, das auf einer größeren Kanne mit kochendem Wasser steht. Der Sud wird in filigrane Tulpengläschen gefüllt und je nach Wunsch mit mehr oder weniger Wasser verdünnt serviert. Schuhputzer reihen sich entlang der Straße auf, putzen mit Bürste und Lappen das Leder an den Füßen der Passanten blank.


Teehäuser auf der Istiklal Caddesi – Istanbuls Prachtmeile / Daniela Haußmann, n-ost

Nicht weit von Kumkapi liegt das historische Zentrum der Millionenstadt: Sultanahmet. Nach dem Aufstieg, vorbei an Häusern mit bunten Fassaden, die den Besucher mit auf eine Reise durch die Zeit nehmen, fällt der Blick auf die Sultan Ahmet Camii. Die Blaue Moschee, wie sie in Europa wegen ihres Reichtums an blau-weißen Fliesen genannt wird, wurde unter Sultan Ahmet I. erbaut und 1616 fertig gestellt. 2006 hat Papst Benedikt XVI. sie besucht. Damit betrat erstmals ein katholisches Kirchenoberhaupt das islamische Gotteshaus, dessen sechs Minarette den blauen Himmel zu berühren scheinen. Spitzbogige Säulenkolonnaden rahmen den weiten Vorhof ein. Gläubige treten heran, durchwandern im Schatten der großen Kuppel das monumentale Bauwerk. Gleich einem Stufengebirge reihen sich die Halbkuppeln, die sie stützen, nebeneinander auf. Im Innern zieren Blumenornamente das muslimische Gotteshaus. Die Darstellung von Tieren und Menschen ist im Islam traditionell verboten. In kunstvoll geschwungener Form schmücken deshalb Tulpen, Lilien- und Zypressenmotive den Andachtsraum.

Unwillkürlich wandert der Blick durch die Hauptkuppel. Reisende lassen minutenlang die Eindrücke auf sich wirken, bekommen eine leise Ahnung von jener Pracht, die noch stärker gewesen sein muss, als in alten Zeiten alle 260 Fenster der Moschee mit venezianischen Buntglasscheiben versehen waren. Stumm, in Gedanken versunken, verharren einige Gläubige im stillen Gebet. Sie werfen sich nieder an jener heiligen Stätte, die einst der Ausgangspunkt der Pilgerfahrten nach Mekka und Schauplatz wichtiger politischer und kultureller Kundgebungen und Feste gewesen ist. Noch heute gilt das Zuckerfest von Sultanahmet, das den Fastenmonat Ramadan mit kulinarischen und folkloristischen Darbietungen feiert, als das prächtigste im ganzen Land.


Sultan-Ahmet-Moschee / Daniela Haußmann, n-ost


Reisetipps Istanbul

Reisezeit Klimatisch ist die beste Reisezeit der Frühling oder der Herbst. Im Hochsommer klettert die Temperatur auf bis zu 40 Grad.

Einreise Deutsche benötigen bei der Einreise über einen Flughafen lediglich den Personalausweis. Reist man aber über Land, ist ein Reisepass vonnöten.

Anreise Germanwings, Condor, Lufthansa, KLM, Turkish Airlines und andere Fluggesellschaften steuern Istanbul von mehren deutschen Städten aus an.

Zeitunterschied Berlin 12 Uhr = Istanbul 13 Uhr

Währung 1 Neue Türkische Lira (YTL) = ca. 0,55 €; 1 € = 1,83 (YTL)

Information Abteilung für Tourismus und Information in der Türkischen Botschaft, Rungestraße 9, 10179 Berlin, www.tuerkischebotschaft.de

Istanbul im Internet Über die englischsprachigen Websites ww.istanbul.com bzw. www.exploreistanbul.com finden sich Informationen über Restaurants, Sehenswürdigkeiten und Hotels.

Literatur Manfred Ferner: Istanbul und Umgebung, Bielefeld 2006, Reise Know-How Verlag, 408 Seiten, ISBN-10: 3-8317-1395-2.


Palmen weisen den Weg, vorbei an hölzernen Bänken und Wasserspielen, durch die Grünanlage des Sultan Ahmet Meydani. An ihrem Ende liegt die Hagia Sofia, die Kirche der göttlichen Weisheit. Sie wurde im sechsten Jahrhundert nach Christus unter Kaiser Justinian erbaut und bildete für fast 900 Jahre die Hauptkirche des östlichen Christentums. 360 nach Christus wurde unter Kaiser Konstantin bereits mit dem Bau begonnen. Rund 44 Jahre später fiel das christliche Glaubenshaus den Flammen zum Opfer. Dort, wo einst Schwerter im Streit rasselten, erlitt ein weiterer Neubau während des Nika-Aufstandes gegen Justinian dasselbe Schicksal.

Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen wurde die Hagia Sofia 1453 unter Sultan Mehmet Fatih in eine Moschee, die Aya Sofia Camii, umgewandelt. In der Folge erhielt sie vier Minarette, die heute noch weithin sichtbar in die Höhe ragen. 1934 wurde sie von Atatürk zum Museum gemacht. In zahlreichen Windungen führt eine steinerne Rampe hinauf zur Galerie. Kalligraphien,  arabische Schönschriften, prangen an den Hauptpfeilern und nehmen den Besucher gleichsam in Empfang. Goldene Lettern auf grünem Grund formen den Namen Gottes (Allah), seines Propheten Mohammed, die seiner beiden Enkel Hasan und Hüseyin sowie die der ersten vier Kalifen Abu Bekr, Othman, Ali und Omar. Besucher stecken ihre Daumen in eine Marmorsäule, die sich am Ende des weiten Raumes, dem Hauptschiff, befindet. Von alters her wird der schwitzenden Säule eine Wunderwirkung nachgesagt. Ihre heilende Kraft soll gegen alle möglichen Leiden wirken.

Mosaike vom jüngsten Gericht, Darstellungen von Johannes dem Täufer, der Muttergottes und Bildnisse, die von Mosaiken überdeckt wurden, spiegeln im Sammelsurium vielfältigster Kultur und wechselhafter Historie die reiche Geschichte, auf die Istanbul blickt. Abseits touristischer Wege haben Frauen entlang der Häuserwand Wäsche auf eine Leine gespannt. Textile Transparente über den Köpfen der Sitzenden, die sich auf der Bordsteinkante zum Plausch zusammengefunden haben. Straßenkino, in dem das Leben zur Aufführung kommt. Momente, in denen sich Lastenträger Pakete auf ein hölzernes Gerüst spannen, das sie auf dem Rücken tragen. Gefolgt von Augenblicken, in denen orientalische Gewürze, Nussmischungen und Kostbarkeiten auf Basaren feilgeboten werden.Mit überkreuzten Beinen hockt Özlem Aslan auf dem Asphalt. Rings um sich hat sie Wolle ausgebreitet. Ohne Unterlass schlägt sie mit einem Stock auf die Fäden ein, die sich mehr und mehr unter den starken Hieben verfilzen. „Die Wolle kommt in die Kopfkissen- und Bettbezüge“, erzählt sie, während Frauen mit vollen Taschen vom Marktbesuch an ihr vorüberziehen. „Im Sommer kühlt und im Winter wärmt sie.“ Stunden sitzt sie so mitunter auf dem Asphalt, ehe sie am Ende die Filzstücke in ein Laken packt und in eines der hohen Häuser die Treppen hinauf schleppt.


Archaisch anmutende Bilder prägen an vielen Ecken das Stadtbild / Daniela Haußmann, n -ost

Auf dem freien Platz vor der Neuen Moschee haben sich Tauben niedergelassen, picken Körner vom Boden auf, die Passanten ihnen hingeworfen haben. Auf dem Ägyptischen Basar preisen Händler ihre Waren an. Aprikosen, Datteln, Pistazien, geschmeidige Tücher, Halsschmuck oder türkischer Honig liegen in den Geschäften aus. Gewürzsäcke reihen sich nebeneinander. Der Duft von Safran und Koriander hat die Luft getränkt. Säcke voller Teeblätter säumen den Weg durch den farbenprächtigen Markt, der zwischen 1597 und 1664 errichtet wurde. Auf der Galatta-Brücke werfen Jung und Alt die Ruten aus. Am Bug von Sport-, Ruderbooten und Touristendampfer brechen sich die Fluten. Angler versuchen ihr Glück. Lassen den Köder am Haken zu Wasser gleiten. „Mittelmeermakrelen fangen wir hier“, sagt Necmettin Kayabasi. Für den 53-Jährigen sind die täglichen Ausflüge zur Brücke eine Abwechslung im beschaulichen Rentenalltag. Reiche Beute hat er hier schon gemacht. Stolz deutet sein Finger auf jenen Eimer voller Fische, die er sich für eine Mahlzeit aus dem Bosporus geangelt hat. 

Unter dem dichten Verkehrstreiben wiegt sich die Brücke bedächtig im Rhythmus der Stadt. Nur einen Steinwurf entfernt liegt die Tünel-Bahn, die nach der Londoner Untergrundbahn die zweite gewesen ist, die 1865 in Betrieb genommen wurde. Mit ihr reist der Besucher rund 600 Meter in gemütlichem Tempo an der Schnittstelle von Tradition und Moderne von Karaköy nach Beyoglu. Prachtvolle Jugendstilhäuser des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts säumen die Istiklal Caddesi, Istanbuls Prachtmeile. Ein Ort westlicher Lebenskultur. Einst das Viertel der Gutbetuchten, verlor der Stadtteil 1923 mit Gründung der Republik und dem Fortzug der meisten Diplomaten und westlichen Ausländerfamilien nach Ankara allmählich seinen Glanz. Anatolische Emigranten und Minderheiten wie Juden, Griechen und Armenier zogen nach Beyoglu, wo die Häuser mehr und mehr verfielen. Dubiose Etablissements begannen sich anzusiedeln, die Kriminalität stieg an.


Istanbuls Tünel-Bahn - die zweitälteste Untergrundbahn der Welt / Daniela Haußmann, n-ost

Heute hat der Stadtteil zu seinem alten Glanz zurückgefunden. Beyoglu ist wieder der Inbegriff des säkularen, liberalen Istanbuls. Unzählige Cafés, Geschäfte, Galerien, Musik- und Bücherläden finden sich neben dem brodelnden Nachtleben in Diskotheken, Clubs und Bars. Am Straßenrand wird gekochter und gegrillter Mais verkauft. Fast Food der türkischen Art. Gemütlich rollt die Tünel-Bahn durch die weiten Straße vor historischer Kulisse bis zum Taksim-Platz. Mediterran-orientalisches Ambiente lädt in den Seitengassen zum Verweilen in einem der malerischen Cafés ein. Männer rauchen Wasserpfeife. Der Duft von Apfeltabak erfüllt die Luft. Spielerkultur wohin das Auge reicht. „Backgammon ist nicht allein ein Zeitvertreib, sondern Teil gesellschaftlicher Begegnungen“, gewährt Serdar Cayir, der in einem der Lokale Platz genommen hat, Einblick in die türkische Volksseele. „Damit sind die Teehäuser mehr als Orte der Einkehr, sie sind Orte des Zusammenlebens.“ Im Schein der Abendsonne schlendert der 30-Jährige über den Taksim-Platz am Ende der Istiklal Caddesi. Sein Blick verharrt für die Zeit dreier Augenaufschläge auf der Statue Kemal Atatürks, ehe er im Häusergeflecht der Stadt mit den unzähligen Gesichtern verschwindet.


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