Im letzten Urwald Europas
Wer in den Urwald will, folgt am besten den Spuren der Wölfe, Bären und Füchse. Hinter dem Dorf Nova Sedlica säumen noch ein paar Holzkirchen den Weg, dann beginnt die Wildnis. Unter einem Dach aus Buchen öffnet sich mit aller Wucht eine Elfenlandschaft wie aus dem „Herr der Ringe“: Meterhohe, moosbewachsene Bäume, Farne und seltene Blumen. Die Baumkronen bewegen sich langsam hin und her, leise heulen sie im Wind.
„Der Urwald fasziniert mich. Jeder spürt hier die Energie. Der Wald lebt sein eigenes Leben“, sagt der Ökologe Peter Sabo vom ostslowakischen Naturschutzverein VOZ. Der 31-jährige Ökologe führt in seiner hellgrünen Wanderjacke und Jeans Touristen durch den Wald.
Der Karpatenurwald Stuzica umfasst etwa 630 Hektar. Mitten durch das Revier verläuft die Grenze zur Ukraine. Seit 2007 gehört das Revier zum UNESCO-Naturwelterbe. In dem tausende Jahre alten Wald findet man Baumstämme mit bis zu drei Meter Umfang.
Die Sonnenstrahlen fallen auf winzige Buchen- und Tannentriebe, die im Urwald Stuzica ohne menschliche Hilfe gedeihen. Gelbbraune Steinpilze leuchten an den Baumstämmen, im Bach plätschert das Wasser, die Spechte klopfen an die Stämme. Peter Sabo beugt sich nach unten und zeigt auf einen Alpenbock, einen seltenen Käfer, der nur auf totem Holz lebt. Auch Elche und Auerochsen fühlen sich in dem Dickicht wohl. In den Bächen schwimmt die gepunktete Groppe, eine in Deutschland als gefährdet eingestufte Fischart.
In dem Urwald kann man gleich mehrere Tierarten auf einmal beobachten, die in Europa selten geworden sind. „Wir haben hier praktisch alle großen Prädatoren, die kleinere Tiere jagen und fressen. Ich habe hier schon Wölfe und Luchse angetroffen, es gibt auch Bären und Wildkatzen“, sagt Marian Gic von der Verwaltung des Nationalparks Poloniny, der zum Urwald Stuzica gehört. Der 50-jährige Mitarbeiter der Naturschutzverwaltung informiert Interessierte in seinem Büro über die Fauna des UNESCO-Naturerbes.
Der größte Feind der Tiere und der Bäume ist auch im Urwald Stuzica der Mensch. Die Region lebt nach wie vor von der Holzindustrie. Zwar ist das Holzfällen verboten, „allerdings ist nur Hälfte der UNESCO-Urwälder in Poloniny geschützt“, sagt Viliam Bartus vom Waldschutzverein VLK. Der restliche Teil des Urwalds ist als Wirtschaftswald deklariert – nur dort wird legal gerodet.
Ohnehin kümmere sich die Holzindustrie nur wenig darum, ob ein Wald geschützt ist oder nicht, ärgert sich Bartus. Das slowakische Umweltministerium kontrolliere kaum, obwohl die Slowakei erst Ende Mai eine Konvention zum Schutz der letzten Urwälder Europas unterschrieben hat.
Der Waldschutzverein VLK will demnächst den UNESCO-Ausschuss in Paris über die Missstände informieren. „Es ist so, als ob jemand aus einer alten UNESCO-Holzkirche eine UNESCO-Betonkirche machen wollte“, sagt Bartus. „Etwas Ähnliches machen wir mit den Urwäldern“.
Bartus möchte den Bewohnern der Region Alternativen zur Holzwirtschaft aufzeigen: Er will den Urwald-Tourismus fördern. „Wir führen Verhandlungen mit Holländern und Polen über den Start eines Projektes namens ‚Wilderness Europe‘“, sagt der 31-jährige Naturschützer. „Besucher sollen mehr Möglichkeiten bekommen, die Tiere und Vögel zu beobachten – im Sommer beim Wandern und im Winter auf Langlaufskiern.“