Geleugnete Geschichte
Die Wände flüstern. Worte, gesprochen in einer fremden Sprache, dringen im Widerhall zu Ohren. Reihe für Reihe haben Gläubige sich zum Gebet versammelt. Hier und da werfen sie sich nieder, breiten die Hände zur Fürbitte aus. Myrrhe, Lorbeer, Zistrose, Galbanum und Styrax erfüllen den Andachtsraum. Stumm in Gedanken versunken hat Midir auf einer hölzernen Bank Platz genommen. Der 36-Jährige ist Armenier. Einer von 80.000 die in Istanbul, dem Konstantinopel der Byzantiner und Osmanen, leben.
Die Geschichte der christlichen Armenier in der Türkei reicht zurück bis ins sechste Jahrhundert. Die einst kulturell und wirtschaftlich bedeutende Gemeinde führt in der Stadt am Goldenen Horn heute ein Schattendasein. Krieg, Vertreibung und Massaker haben sich in ihr kollektives Gedächtnis eingegraben und bestimmen noch immer das politische Verhalten. Auch Hrant Dink gehörte zu den türkischen Staatsbürgern mit armenischen Wurzeln in Istanbul. Am 19. Januar 2007 wurde der prominente Journalist, der sich immer wieder für die Versöhnung von Armeniern und Türken und die Aufarbeitung der gemeinsamen Geschichte einsetze, in Istanbul mit drei Schüssen in Kopf und Genick getötet. Derzeit läuft der Prozess gegen seinen mutmaßlichen Mörder, den 17-jährigen Ogün Samast sowie gegen 17 weitere Hintermänner aus dem Lager türkischer Ultra-Nationalisten.
Sonntagsgottesdienst in einer armenischen Kirche in Istanbul / Daniela Haußmann, n-ost
"Viele von uns sind im Verlauf der Geschichte zum islamischen Glauben konvertiert, haben ihren Namen geändert, sind unsichtbar geworden", beschreibt Midir das armenische Leben im Land zwischen Orient und Okzident. "Manche haben eine Doppelidentität. Sie gaben sich türkische Namen, pflegen die Sitten und Gebräuche der Türken und passen sich so ihrem Umfeld perfekt an." Erinnerungen werden wach. Spuren führen zurück in Kindheitstage und Jugendzeit. Über die Geschichte seines eigenen Volkes hat er in der Schule wenig erfahren. "Wir haben nur gelernt, wie unsere Vorfahren die Türken verraten und unzählige von ihnen niedergemetzelt haben", erinnert sich der 36-Jährige. "Eine Geschichte in der die Armenier als heimtückische Verbrecher dargestellt werden und die nicht nur die offene Ablehnung der Türken gegenüber uns schürt, sondern auch das Misstrauen auf beiden Seiten." Eine Friedenskultur und ein Aufarbeiten der Geschichte würde er sich wünschen, doch das ist nicht in Sicht.
Während seiner Kindheit konnte er nicht mit türkischen Kindern spielen. "Die Eltern wollten mit einem Gavur, einem Gottlosen, nichts zu tun haben", erinnert sich Midir, während sein Blick durch die Kirche wandert. "Beim Wehrdienst war es nicht viel anders. Als Armenier musste ich die niedrigsten Arbeiten erledigen, wurde beschimpft oder wenn etwas nicht ordnungsgemäß erledigt wurde, dann war ich der Schuldige und musste vor den Vorgesetzen den Kopf dafür hinhalten.
"Hinter vorgehaltener Hand erzählten ihm seine Großeltern von jenem Völkermord, der zwischen 1915 und 1917 rund 1,5 Millionen Armenier das Leben kostete. Ein politisch hoch sensibles Thema in der Türkei. Bis heute werden die Tötungen und Elendszüge durch die Wüste von Aleppo bestritten. "Wer etwas anderes behauptet, muss mit einer Strafanzeige wegen Beleidigung des Türkentums rechnen", erklärt Raffi Hermon, stellvertretender Vorsitzender der Menschenrechtsorganisation Insan Haklari Dernegi.
Im Frühjahr 1915 eskalierte im Osmanischen Reich der Konflikt zwischen den nach stärkerer Unabhängigkeit strebenden Armeniern und der nationalistischen Regierung der Jungtürken in Konstantinopel. Am 24. April 1915 kam es zu ersten Massenverhaftungen und Ermordungen. Nur vier Wochen später wurde im türkischen Außenministerium die Deportation aller Armenier, die der Spionage und des Verrats verdächtigt wurden, beschlossen. Die Umsiedlungen begannen, angeblich um Aufstände zu zerschlagen und militärischen Druck von der russischen Front zu nehmen. "Nach wie vor hält die türkische Regierung an dieser Version fest", fährt der Schriftsteller und Journalist fort. "Mehr als 90 Jahre später gibt es in diesem Punkt noch immer keine Meinungs- und Pressefreiheit, aber auch keine Forschungsfreiheit. Historiker haben die Aufgabe den Genozid zu widerlegen, nicht ihn zu erforschen."
"Nach wie vor gibt es Berufsverbote für uns. Richter, Staatsanwalt, Offizier, Diplomat, Polizist, Lehrer für Geschichte oder Gemeinschaftskunde dürfen Armenier nicht werden. Eine Kommission entscheidet darüber." Das hat nach Ansicht des Schriftstellers und Journalisten einen einfachen Grund: "Die armenische Geschichte und Kultur soll den Kindern und Jugendlichen nicht vermittelt werden. Damit wird verhindert, dass sich ein kulturelles Bewusstsein, eine armenische Identität herausbildet." Doch das sei nur ein Beispiel für die Ausgrenzung von Minderheiten in vielen Lebensbereichen.
Die kulturelle und administrative Autonomie, die nicht allein den Armeniern, sondern auch anderen in der Türkei lebenden Ethnien im Jahre 1923 mit dem Abschluss des Vertrages von Lausanne zugestanden wurde, existiere lediglich auf dem Papier. In Istanbul gibt es 16 armenische Schulen. "Laut Verfassung sollen diese als Privatschulen von Minderheiten eingestuft werden. Aber die Realität sieht anders aus", so Hermon. "Sie werden als ausländische Schulen geführt. Inoffiziell werden die Armenier damit zu Ausländern erklärt. In armenischen Schulen bekommt jeder Direktor einen türkischen Stellvertreter beigestellt, der vom Staat bestimmt ist und den Schulleiter kontrolliert.""Obwohl in der jetzigen Verfassung und auch in der von 1932-1946 steht, dass die Armenier dieselben Rechte und Pflichten haben wie die Türken existiert diese Kommission, die darüber befindet ob ein Armenier in den Staatsdienst darf oder nicht", erzählt der Schriftsteller und Journalist. "Die jetzige Regierung unter Erdogan hat erstmals in der Geschichte der Türkei diese Kommission öffentlich gemacht. Das ist ein Fortschritt. Aber man darf nicht zuviel erwarten. Eine große Veränderung wird deshalb nicht eintreten, dazu müsste eine offene Diskussion in der Gesellschaft angestoßen werden.
"Im Gottesdienst werden unterdessen Kerzen verteilt. Die Gläubigen gehen durch die Reihen. Sie geben das Feuer, an jene denen sie beim Gang durchs Kirchenschiff begegnen, weiter. Lichter die im spärlichen Hell wie ein Schimmer der Hoffnung erscheinen. "Seit zwei Männer nach dem Gedenkgottesdienst für Hrant Dink vor sechs Monaten vor dem Patriarchat um sich schossen, haben die Menschen Angst", gewährt Midir Einblick in die geistige Verfassung der Gemeinde. Theologe Doktor Levon Diakon Sardasyan nickt: "Die Armenier sind Bürger des türkischen Staates. Doch der schützt sie nicht. Für ihren Schutz müssen sie mit Wachleuten und Sicherheitssystemen selbst sorgen." 2006 wurden in Izmir und Kayseri eine griechische beziehungsweise eine armenische Kirche Ziel von Brandbombenanschlägen. "Die Angst, dass das gleiche in Istanbul passieren könnte ist groß", beschreibt der Theologe die Stimmung innerhalb der Armeniergemeinde.
"Woran es fehlt ist die Vermittlung von Toleranz und Menschenrechten. Der Lehrplan basiert auf den Atatürkschen Prinzipien und auf dem türkischen Nationalismus. Und innerhalb der Gesellschaft haben wir es mit einer durchschnittlichen Schulbildung der vierten Grundschulklasse zu tun", erklärt Raffi Hermon. "Deshalb sollte man nicht träumen, sondern akzeptieren, dass Veränderungen in der Türkei nur langsam vonstatten gehen." Hochrangige Persönlichkeiten, allen voran die Politiker, müssen nach Ansicht des Intellektuellen auf die Situation aufmerksam machen und so für eine Verständigung unter den in der Türkei lebenden Völkern sorgen. "Das wird die Gesellschaft zwar nicht verändern", so der Schriftsteller weiter. "Doch es wird die Türe zum Dialog aufstoßen." Aber bis es soweit sei stelle sich die Türkei auf dem Weg hin ein demokratischer Staat zu werden weiterhin selbst ein Bein.