Gegenputsch durch den Wähler
Nach dem überlegenen Wahlerfolg der Regierungspartei für "Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) vom Sonntag wird die politische Landschaft in der Türkei neu sortiert. Seit der türkische Generalstab Ende April mit einer Putschdrohung die Wahl Außenminister Abdullah Güls (AKP) zum Staatspräsidenten verhinderte, hatte sich eine bleierne Apathie über die Türkei gelegt. Dies betraf nicht zuletzt die Beitrittsgespräche des Landes mit der Europäischen Union, die von der AKP vorangetrieben worden sind. Nun sprechen türkische Medien von einem demokratischen Gegen-Putsch der Bevölkerung.
Straßenszene in Istanbul / Sabine Küper-Büsch, n-ost
Im Wahlkampf hatten die kemalistische "Republikanische Volkspartei" und die ultranationalistische "Nationale Bewegungspartei" (MHP) bewusst auf europafeindliche, nationalistische Parolen gesetzt. Selbst die früher als sozialdemokratisch eingestufte CHP bezeichnete die EU als imperialistische Macht und verwirrte ihre Stammwähler aus der urbanen Mittel- und Oberschicht. Der Parteiführer der MHP, Devlet Bahceli, präsentierte sich auf Wahlkampfveranstaltungen mit einem Galgenstrick und forderte die Wiedereinführung der Todestrafe, dessen erstes Opfer PKK-Führer Abullah Öcalan seiner Ansicht nach werden soll. Dass die MHP mit solchen Parolen auf 14 Prozent der Stimmen kam, signalisiert das latent vorhandene Potential in der Türkei auf politische Durststrecken mit steigendem Nationalismus zu reagieren.
Auf den großen Protestdemonstrationen gegen die regierende AKP ging es weniger um eine Angst vor einer schleichenden Islamisierung, sondern um eine Betonung der Wichtigkeit des Militärs als politischer Macht, der Ablehnung von mehr Minderheitenrechten und eine Bekräftigung der autoritären Züge des kemalistischen Staatsgefüges. Dementsprechend ist der deutliche Stimmenzuwachs der AKP um zehn Prozent auf nun 47 Prozent auch ein deutliches Signal der türkischen Wähler, den europanahen Kurs fortzusetzen. Dass die Regierungspartei trotzdem weniger Sitze im Parlament innehat als vorher, liegt am Einzug von mehr Parteien in die türkische Nationalversammlung.
Die für die Wahl des Staatspräsidenten erforderlichen 367 Stimmen hat die AKP-Fraktion verfehlt. Es wird ihre erste Aufgabe nach den Wahlen sein, sich politische Verbündete zu suchen. Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan hat bereits signalisiert, dass die AKP zu Kompromissen bereit ist. Außenminister Abdullah Gül erklärte am Mittwoch, der türkische Wähler habe sich für mehr Demokratie entschieden. Damit meint er auch den Einzug der zwanzig kurdischen Abgeordneten, die mit Direktmandaten die zehn Prozent Hürde umgehen konnten und vor allem von Kurden und Linken in den südöstlichen Provinzen und in Istanbul gewählt wurden.
Es wird sich nun zeigen, ob es zu bisher nicht gekannten Koalitionen kommt, denn zumindest im Wahlkampf standen sich auf der einen Seite CHP und MHP, auf der anderen Seite AKP und die unabhängigen Kandidaten inhaltlich näher. Der AKP gelang es auch in den von Kurden bewohnten Provinzen ihre Stimmen zu steigern, weil sie versucht, einen alle Bevölkerungsgruppen ansprechende integrative Politik zu machen.Bei der Kandidatenaufstellung bevorzugte die AKP diesmal neue Gesichter. Die islamisch-konservative Fraktion wurde ausgedünnt und mit liberalen Akademikern bestückt. Erstmalig schafften es 50 Frauen in das türkische Parlament. Die Vorsitzende des "Vereins zur Ausbildung und Gleichstellung der Frauen" (Ka-Der), Hülya Gülbahar, erklärte am Mittwoch, dass der Ausgang der Wahlen nicht eine Steigerung des Konservatismus der türkischen Gesellschaft anzeige, sondern den Willen zu politischem Wandel und dem Aufbrechen alter Fronten.
In den türkischen Medien wurden zwei Kandidaten besonders erwähnt, die zwei Pole verkörpern. Die unabhängige Kandidatin Sebahat Tuncel wurde Dienstag aus der Untersuchungshaft des Istanbuler Hochsicherheitstrakt Gebze entlassen, weil sie nun parlamentarische Immunität genießt. Sie wird der Unterstützung der PKK angeklagt und gehört zu der jungen Generation von in Istanbul aufgewachsenen kurdischen Migranten, die wegen des Kampfes zwischen türkischem Militär und PKK in den 90er Jahren aus dem Südosten in die Metropole kamen.
Der mittlerweile zurückgetretene Führer der "Demokratie-Partei" (DP), Mehmet Agar, hingegen wird sich nach den verlorenen Wahlen einer Anklage stellen müssen. Er gehört als früherer Chef der türkischen Polizei zu den Teilen des Staatsapparates, die ultranationalistische und islamistische Kreise in den 90er Jahren im Namen des Anti-Terror-Kampfes instrumentalisierten und hat sich womöglich der Beihilfe zum Mord schuldig gemacht. Die Abstrafung der DP von Mehmet Agar durch den türkischen Wähler ist ein weiteres Zeichen dafür, dass der türkische Bürger sich mehr Demokratie und Menschenrechte wünscht.
Auch in den Mordfall Hrant Dink könnte der Wahlausgang Bewegung bringen: In der armenisch-türkischen Wochenzeitung Agos, dessen Chefredakteur Hrant Dink im Januar von einem ultranationalistischen Jugendlichen erschossen wurde, veröffentlichte der Journalist Ali Bayramoglu vor den Wahlen ein bedeutsames Gespräch mit Regierungschef Erdogan. Im Mordfall Dink wird immer deutlicher, dass der jugendliche Mörder vom "tiefen Staat" gelenkt wurde. Erdogan versprach der Redaktion von Agos, dass die Regierung gegen diese Strukturen vorgehen wird, verglich die Stärke dieser Kräfte allerdings mit der italienischen Mafia. Der Istanbuler AKP-Abgeordnete Egemen Bagis lehnte sich sogar noch weiter aus dem Fenster. Er deutete in einem Interview mit Agos an, dass der Dink-Mord eine Strategie des "tiefen Staates" war, um die AKP-Regierung als Christen-feindlich und islamistisch zu diffamieren. Viele liberale Kommentatoren sprachen dementsprechend nach der Wahl in den türkischen Medien von einem demokratischen Gegen-Putsch der Bevölkerung, die den konservativen Teilen des Militärs und der Staatsbürokratie ein klares Nein entgegengestellt haben.