Modernes Rittertum in Polen
Schweißtropfen lassen die Augen tränen. Die Luft ist knapp. In der prallen Sonne drücken 40 Kilo Stahl gnadenlos. „Sauna ist nichts im Vergleich dazu“, keucht Pawel Slawski. Er atmet schwer. Die Helmklappe hat er hochgezogen, um sich ein wenig Kühlung zu verschaffen. Hofdame Lidka nimmt einen Schluck Wasser aus einem Tonbecher und prustet es mit voller Kraft in Pawels Gesicht. Die kleinen Tropfen bringen etwas Erleichterung. Der Knappe zieht die Klappe wieder runter und greift nach seinem Schwert. Langsam, mit metallischem Klirren, geht Pawel zurück auf das Schlachtfeld.
Der 30-jährige Pawel Slawski aus Warschau ist Informatiker, vor allem aber ist er mit Leib und Seele ein Ritter. Einer von vielen in Polen. Denn das sogenannte Reenactment, das Nachstellen historischer Ereignisse, entwickelt sich zum Volkssport. Sieben Millionen Polen beteiligen sich an solchen Veranstaltungen – aktiv oder zumindest als Fan. Es werden alle historischen Epochen nachgespielt, von der Antike über die Zeit der Wikinger und Altslawen bis zum Zweiten Weltkrieg. Doch das Mittelalter ist klarer Favorit. Es gibt mehr als 600 Rittervereine in Polen, die sich allein auf das Spätmittelalter spezialisiert haben. „Rycerzomania“– Ritterwahn – nennen die Medien den Trend.
Romantisch, edelmütig und siegreich: Der Rittermythos war über Jahrhunderte tief im nationalen Gedächtnis der Polen verankert. Vor allem als Polen für mehr als ein Jahrhundert von der politischen Landkarte verschwand, diente die Erinnerung an Siege wie in der Schlacht bei Grunwald als Stütze der nationalen Identität. Nach dem Zweiten Weltkrieg allerdings war die ritterliche Tradition verpönt. Nicht einen einzigen Ritterverein gab es in Polen zu dieser Zeit. Das kommunistische Regime instrumentalisierte zwar weiterhin die historischen Mythen, aber das Rittertum an sich galt als Symbol des Feudalismus und des Adels, der Polen in den Verfall geführt habe. Der Leiter des Burgmuseums in Golub-Dobrzyn musste hart ringen, bis ihm schließlich 1978 erlaubt wurde, das erste Ritterturnier in Polen zu organisieren. Die Ritter kämpften in Sportschuhen und T-Shirts. Knappe Textil- und Kleiderversorgung erlaubten keine ritterliche Authentizität. Trotzdem wurde das Turnier zum Erfolg und es gab massenweise Bewerber.
Doch der eigentliche Ritter-Boom kam nach der Wende. Man suchte nach etwas Neuem, das nicht mit dem alten Regime assoziiert werden konnte, nach Abenteuer und Gemeinschaftsgefühl. Die Geschichte war nun kein Tabu mehr, alte Werte und Traditionen erfreuten sich neuer Popularität. Eine gute Zeit für Ritter.
Die Vorliebe für das Rittertum in Polen ausschließlich als Zeichen von Patriotismus zu sehen, wäre falsch. „Das Rittertum fasziniert mich mit seinen Idealen und Lebensweisen: Verteidigung der Schwachen, Ehrlichkeit und Treue“, sagt Dolmetscher Maciej Skora aus Warschau, der in seiner Freizeit regelmäßig zu Bruder Mordred, Ritter des Deutschen Ordens, wird.
Das Rittertum und sein Ethos diene im Alltagsleben als Orientierung, erklärt der Soziologe Robert Wyszynski den Ritterkult: „Es gibt deutliche Normen und Beschränkungen, sowohl moralische als auch physische, die die Mitglieder sich selbst auferlegen.“
Die historische Authentizität wird in Polen besonders ernst genommen. „Die Rüstung ist keine Verkleidung“, betont Pawel Slawski. Die Vereinsmitglieder recherchieren in historischen Dokumenten, besuchen Museen, analysieren Gemälde. Pawel hat seine Rüstung bei einem englischen Handwerker bestellt. Sie ist die genaue Kopie eines mittelalterlichen Stücks. „Nur die Unterhose darf modern sein“, sagt Pawel. Maschinelle Nähte bei den Hemden lässt er auch zu. Eine liberale Einstellung. Für viele orthodoxe Ritter sei das schon Verrat, sagt er.
„Erst Kandidat, dann Knappe, dann jüngerer Ritter“, zählt Pawel den üblichen Werdegang auf. „Am Ende steht eine Prüfung in Fechtkunst und Geschichte.“ Die Ausbildung dauert mindestens ein Jahr, mehrere Stunden in der Woche. Es ist ein hartes Training. Trinken und Rauchen sind nur in Maßen erlaubt weil sie „Kopf und Körper schaden“, so Pawel. Jede Art von Vorstrafe führt zum Vereinsausschluss, ebenso ein Verstoß gegen den Rittercodex. „Es geht nicht nur um Preise, Ruhm oder Spaß bei Kämpfen“, versichert Kreuzritter Maciej. „Ein Ritter muss verantwortungsbewusst sein.“ Denn es ist ein gefährliches Hobby – das Schwert kann eine tödliche Waffe sein.
Die Kreuzritter sind in Polen mit mehreren Dutzend Vereinen gut vertreten – obwohl das Bild vom Kreuzritter als größtem Feind Polens noch immer verbreitet ist. Es gehe nun mal nicht ohne sie im Reenactment, sagt Maciej ganz pragmatisch. „Für mich ist es kein Problem, einen Deutschordensritter zu spielen.“ Obwohl, fügt er lachend hinzu, die Zuschauer seien meistens gegen die Kreuzritter – und für „die Polen“.