Türkei

Türkischem Wehrdienstverweigerer droht erneute Haft

Als Osman Murat Ülke am ersten September 1995 seinen Einberufungsschein zum Militärdienst auf einer Pressekonferenz in der westtürkischen Großstadt Izmir demonstrativ verbrannte, kannte innerhalb eines Tages die gesamte Türkei den Vierundzwanzigjährigen mit den langen Haaren als ersten bekennenden Wehrdienstverweigerer des Landes. Er begründete die Anti-Militarismus-Bewegung in der Türkei, deren Symbolfigur er bis heute ist - mit allen Konsequenzen: Seit seinem Bekenntnis zur Kriegsdienstverweigerung lebt Osman Murat Ülke in einem Zustand, den der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2006 als "zivilen Tod" bezeichnete. Weil es in der Türkei kein Recht auf Wehrdienstverweigerung gibt, wurde Ülke mehrmals auf Grund von Fahnenflucht inhaftiert. Insgesamt verbrachte er 701 Tage in Militärgefängnissen, 24 Tage davon in Einzel- und Dunkelhaft, bis er mittels Hungerstreik reguläre Haftbedingungen erwirkt. 2006 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die türkische Regierung wegen unverhältnismäßiger Strafverfolgung im Fall Ülke verurteilt.


Osman Murat Ülke / Sabine Küper-Büsch, n-ost

Der 36-jährige Familienvater begann, Hoffnung zu schöpfen. Im Falle eines Abschlusses der Anklage wegen Fahnenflucht könnte er endlich seine Freundin Aytül heiraten, Mutter seines vierjährigen Sohnes. Da Osman Murat Ülke seit seiner Verurteilung keinen gültigen Pass mehr besitzt, kann er weder heiraten, reisen, wählen oder eine reguläre Arbeit annehmen. Am Montag wurde an die Adresse der Eltern im westanatolischen Ayvalik eine Aufforderung zum Haftantritt zugestellt. Ülke soll wieder für siebzehn Monate in ein Militärgefängnis. Warum gerade jetzt?

Ülkes Anwältin Hülya Ücpinar glaubt, die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes liege dem türkischen Militärgericht vermutlich gar nicht vor. Ülke selbst fürchtet jedoch politische Zusammenhänge. Seit Monaten herrscht an der Grenze zum Nordirak Mobilmachung. Der türkische Generalstab versucht die Regierung dazu zu bewegen, grünes Licht für einen Einmarsch zu bekommen, um die Lager der kurdischen PKK-Rebellen auszuheben. Schon jetzt rücken viele Einheiten an die Grenze, es kommt immer wieder zu Gefechten mit PKK-Einheiten, bei denen auch Soldaten fallen.

In der türkischen Bevölkerung macht sich Unwillen breit, denn immer wieder sterben auch Wehrdienstleistende. Generalstabschef Yasar Büyükanit erklärte vor zwei Wochen, die Türkei bilde eine Spezialeinheit aus, die künftig den Anti-Terror-Kampf übernehmen soll. Bis dahin werden jedoch weiter einfache Soldaten in die Berge ziehen. Eine Diskussion um das Recht auf Kriegsdienstverweigerung passt der militärischen Führung deshalb überhaupt nicht. In der Türkei ist jeder Mann ab dem 20. Lebensjahr ist so lange wehrpflichtig, bis er einen acht- bis 15-monatigen Grundwehrdienst abgeleistet hat. Es gibt kein Recht auf Verweigerung und auch keinen zivilen Alternativdienst.

Osman Murat Ülkes wurde 1970 in Ründeroth, Nordrhein-Westfalen, geboren. Im Alter von fünfzehn Jahren ist der begabte Schüler bereits politisch engagiert, schreibt für die Schülerzeitung und reiht sich in Friedensdemonstrationen ein. Aus Angst, dass sein Sohn sich in der Türkei nicht mehr integrieren kann, beschließt sein Vater, ihn auf ein Internat in der Türkei zu schicken. Der Junge kommt in eine Lehranstalt, in der besonders strenge Regeln gelten. Erst später wird klar, dass es sich um ein Pilotprojekt des fundamentalistischen Politikers Fethullah Gülen handelt. Ülke, der anfangs erst Türkischkurse besuchen muss, kommt mit den starren Regeln nicht zurecht. Für ihn ist alles nur "menschenfeindlich", bald lebt er mit Selbstmordgedanken. Eine Lehrerin verständigt seine Eltern und rettet ihn damit. Nach der Krise macht Ülke auf dem Internat seinen Schulabschluss. "Politisch zu denken und zu leben, hat mich am Leben gehalten. Sonst hätte das Internat mich kaputt gemacht", sagt er heute. Mittlerweile leben etwa 60 erklärte Wehrdienstverweigerer in der Türkei.


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