Estland

Estland wappnet sich gegen Cyberkrieg

Im April eskaliert in Estlands Hauptstadt Tallinn der Streit um die Versetzung eines sowjetischen Kriegerdenkmals. Nachdem sich zahlreiche Demonstranten vor dem Denkmal versammeln, entscheidet die Regierung in einer nächtlichen Eilsitzung die unmittelbare Versetzung der Bronzestatue aus dem Zentrum an den Stadtrand. Daraufhin kommt es zu tagelangen schweren Krawallen und Plünderungen.

Während die Bilder von gewaltsamen Ausschreitungen europaweit über die Bildschirme flimmern, eröffnet sich eine Front, die für Estland gefährlicher ist als zertrümmerte Schaufenster, demolierte Bushaltestellen und geplünderte Geschäfte: Nur kurze Zeit nach dem Ausbruch der Krawalle werden von den Behörden erste Angriffe auf estnische Internetseiten registriert. Die Server sind so überlastet, dass die Seiten nicht mehr aufgerufen werden können. Und nicht nur die Seiten der Regierungen werden gestört, auch die Onlineausgaben großer Medien wie das Portal „Delfi“ oder die Tageszeitung „Postimees“ können nicht mehr aufgerufen werden. Regierungsberater Martin Jaško macht ein Muster hinter den Attacken aus: „Ziel der bösartigen Angriffe ist es, die estnischen staatlichen Einrichtungen und Medien zu blockieren und eine Verbreitung von Informationen außerhalb des Landes zu verhindern.“

Die estnische Öffentlichkeit ist schockiert. Immerhin gilt Estland als vorbildlich, was die Nutzung des Internets betrifft. Bis in die tiefste Provinz ermöglicht die Regierung allen Bürgern den kostenlosen Zugang zum Internet, drahtlose Netzwerke erreichen inzwischen fast sämtliche Krähwinkel. Steuererklärungen per Mausklick sind in Estland längst eine Selbstverständlichkeit, bei den letzten Parlamentswahlen bestand sogar die Möglichkeit, seine Stimme im Internet abzugeben – Errungenschaften, auf die man in Estland stolz ist.

Alo Lõhmus, Kommentator der Tageszeitung „Postimees“, beschreibt ein wahres Horrorszenario: „Zuerst können beliebte Internetseiten wie Medienportale nicht mehr geöffnet werden. Dann werden E-Mails aufgehalten, denn die schlauen Angreifer haben die estnischen Mailserver in den internationalen Spam-Datenbanken registriert, wodurch die Nachrichten estnischer Bürger blockiert werden. Das Internetbanking bricht zusammen. Ärzte können keine Krankenakten mehr aufrufen, die Apotheken erhalten keine elektronischen Rezepte mehr und können keine Medikamente verkaufen. Das Einwohnermeldeamt und das Unternehmensregister brechen zusammen …“ IT-Sicherheitsexperte Tõnu Samuel geht sogar noch weiter: „Die wirtschaftlichen Schäden bei einem Cyberkrieg sind schon heute groß, aber noch kommt niemand zu Tode. Ich glaube aber, dass wir in ein paar Jahren sogar erleben werden, dass jemand bei einem Internetkrieg ums Leben kommt.“

Mart Laar, von 1999 bis 2002 Premierminister und als „Vater des estnischen Wirtschaftswunders“ bekannt, scheut den Vergleich mit dem internationalen Terrorismus nicht: „Es macht keinen Unterschied, ob Terroristen Schusswaffen, Bomben oder Computer einsetzen“, erklärt er auf einer Sitzung der EU-Justizbehörde EUROJUST in Brüssel.

Unterdessen gibt es nach Ansicht der meisten Esten kaum einen Zweifel daran, wer hinter den Angriffen steckt: Bei Kontrollen habe sich herausgestellt, dass die Angriffe von staatlichen Behörden in Moskau ausgingen, erklärt Justizminister Rein Lang im Fernsehen und geht noch weiter: „Das deutet darauf hin, dass es in Moskau politische Kräfte gibt, die vollkommen den Verstand verloren haben.“ Weit verbreitetes Argument ist, dass die Angreifer angeblich IP-Adressen des Kremls nutzen. Am 10. Mai sendet die estnische Staatsanwaltschaft ein Rechtshilfeersuchen an Russland, das am 28. Juni negativ beschieden wird. Auch dies ist Wasser auf die Mühlen der Russland-Kritiker. So erklärt Mart Laar: „Am kritikwürdigsten ist die Haltung Russlands, das eine Zusammenarbeit mit den estnischen Justizorganen bei der Untersuchung der Cyberangriffe ablehnt.“ Moskau weist unterdessen hartnäckig jede Verantwortung von sich und erklärt, die Angreifer hätten gefälschte IP-Adressen benutzt.

Für Estland ist die Einschätzung der Lage so ernst, dass der Fall vor die NATO gebracht wird. „Cyberangriffe und Cyberterror können nur durch eine aktive internationale Zusammenarbeit bekämpft werden“, erklärt Verteidigungsminister Jaak Aaviksoo und fordert außerdem eine deutliche Reaktion der EU: „Die Cyberangriffe gegen Estland zeigen deutlich, dass man sich ernsthaft mit diesem Thema auseinandersetzen und die relevanten Informationen austauschen muss.“ In den Augen der NATO sind Cyberangriffe bislang freilich keine militärischen Aktionen und stellen damit auch keinen Verteidigungsfall dar, auch wenn EU und NATO das Thema durchaus ernst nehmen.

Mitte Juli macht Staatspräsident Toomas Hendrik Ilves das Thema zum Gegenstand von Gesprächen mit dem deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier bei dessen Besuch in Tallinn. Ilves berichtete von der Gründung eines Zentrums für Cyberschutz in Tallinn mit Namen „Cooperative cyber defense centre“. Dieses soll auf Wunsch der estnischen Führung 2008 von der NATO offiziell den Status eines „Centre of excellence“ erhalten. „Ich freue mich, dass Deutschland bei diesem Projekt mit Estland zusammenarbeiten will“, erklärt Ilves und teilt mit, dass auch Bush bei einem Treffen im Juni seine Unterstützung angekündigt hat. Estland will demnach eine Organisation der elektronischen Kommunikation in der EU in einer Form anregen, die die Infrastruktur der Informationsgesellschaft künftig besser gegen Cyberangriffe schützt. Margus Püüa, Abteilungsleiter für staatliche Informationssysteme im Ministerium für Wirtschaft und Kommunikation, sieht dabei allerdings auch Schwierigkeiten: „Wir haben derzeit nicht die Ressourcen, zu jedem Zeitpunkt alle Bewegungen im Internet zu speichern und damit einen Angriff zurückzuverfolgen.“ Solange dies nicht möglich sei, sei das Rückverfolgen von Angriffen wie das Suchen nach einer Nadel in einem weltweiten virtuellen Heuhaufen.

Mart Laar mag den Cyberangriffen inzwischen auch Positives abzugewinnen. Die starke Präsenz des Internets habe Estland nicht verletzlicher gemacht habe, ganz im Gegenteil: „Gerade die Errungenschaften bei der Einführung des e-Government haben Estland geholfen, die Angriffe abzuwehren. Hätte ein ähnlicher Angriff ein anderes Land getroffen, in dem der Aufbau der Strukturen weniger weit ist, wären die Konsequenzen viel ernster gewesen.“ Estland gehe damit nicht geschwächt, sondern gestärkt aus der Krise hervor. Und: „Die Fähigkeit, russische Cyberangriffe abzuwehren, haben das Ansehen Estlands gesteigert.“ Auch Hillar Aarelaid, Abteilungsleiter des Riigi Infosüsteemide Arenduskeskus (Staatliches Entwicklungszentrum für Informationssysteme, CERT), zeigt sich optimistisch: „Ich glaube, dass wir nach den Angriffen vom Frühjahr jetzt das Waffenarsenal kennen, das es derzeit in einem Cyberkrieg gibt. Das ist sehr gut – jetzt wissen wir mehr oder weniger, wozu die Angreifer in der Lage sind.“


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