Flagge ohne Staat
Ein Autokorso mit einer Hochzeitsgesellschaft fährt hupend durch die Straßen Pristinas. Darüber flattert die albanische Fahne, groß wie ein halbes Bettlaken, an einer langen Stange aus dem Wagen gehalten. Der schwarze doppelköpfige Adler auf rotem Grund weht über jedem kosovo-albanischen Heldenfriedhof, zu Richtfesten wird die Fahne auf dem Dachstuhl jedes Hauses gehisst. Tankstellen und Imbissbuden heißen Flamuri ("Fahne") - und sind natürlich mit Fahnen geschmückt. Kein Zweifel, die Albaner im Kosovo sind große Patrioten.
Wenige Kilometer nördlich in den serbischen Siedlungsgebieten des Kosovo weht genauso selbstverständlich die rot-blau-weiße Fahne Serbiens über Gräbern und Hochzeitszügen, sogar an manchen Verkehrsschildern. Welche Fahne soll vor amtlichen Gebäuden im Kosovo aufgezogen werden, wenn die derzeit noch unter UN-Verwaltung stehende serbische Provinz die staatliche Unabhängigkeit erreicht hat? Die Verwendung einer Fahne, die bereits ein anderer Staat - Serbien respektive Albanien - als Banner führt, kommt nicht in Frage. Das Kosovo braucht eine neue Flagge und ein eigenes Staatsemblem.
Die serbische Fahne im serbisch besiedelten Norden des Kosovo / Saskia Drude, n-ost
Mitte Juni schrieb das kosovarische "Unity Team", ein Zusammenschluss von Regierungs- und Oppositionsvertretern, einen Ideenwettbewerb aus. Für die drei besten Entwürfe einer kosovarischen Fahne und eines Staatsemblems wurden insgesamt 22.000 Euro Preisgeld ausgelobt. Jedem Einwohner stand es frei, sich mit einer beliebigen Anzahl von Ideen zu beteiligen.
Um unbrauchbare Vorschläge von vornherein auszuschließen, hatten die Entwürfe für Fahne und Emblem hehren Vorgaben zu genügen. Jeder kosovarische Bürger solle sich mit ihnen identifizieren können, hieß es in der Ausschreibung. Flagge und Emblem sollten den "Geist von Respekt und Toleranz" widerspiegeln und "das Streben der Kosovaren nach Integration in europäische und euro-atlantische Institutionen" ausdrücken. Praktische Anweisungen sahen vor, die Fahne dürfe keiner existierenden Staatsfahne gleichen oder ähneln, auch die Beschränkung auf die Farben Rot und Schwarz oder Rot-Blau-Weiß sei unzulässig. Wörter oder Slogans jeder Art waren zu vermeiden, vor allem aber jede Art von Adlerfiguren.
Ende Juni ging die Frist zur Einreichung der Entwürfe zu Ende. Am letzten Tag bildeten sich Schlangen im Flur des Regierungsgebäudes. Überall Menschen mit Briefumschlägen unter dem Arm. Einige Teilnehmer sind bereit, über ihre Entwürfe zu sprechen:"Ich will Teil des Prozesses hin zum neuen Staat sein", sagt die Architektin Lorika Hisari (33) aus Prizren. "Als ich in der Zeitung von dem Wettbewerb las, hatte ich sofort eine Idee." In Worten und Gesten beschreibt sie der Korrespondentin den Entwurf, den sie im versiegelten Umschlag bei sich trägt: eine blau-weiße Figur und eine aufstrebende Reihe von Sternen als Symbole für Frieden, Wohlstand und europäische Integration.
Der 41-jährige Karikaturist und Kunstprofessor Beg Korpuzi hat als einer der wenigen Bewerber sowohl die Fahne als auch das künftige Staatsemblem entworfen. Seine Idee zeigt den Umriss des Kosovo, aber auch eine Reihe von Europa-Sternen. "Wir brauchen die Fahne für die europäische Integration", erklärt er. Aber auch die ethnische Basis des Kosovo dürfe man nicht verleugnen - daher die Grundfarbe Rot in seinem Entwurf."
Die Albaner sind nun einmal Nationalisten", sagt die Englischlehrerin Nora Gashi, die sich an dem Wettbewerb nicht beteiligt hat. "Jede neue Fahne kann nur als Diktat der internationalen Gemeinschaft empfunden werden." Ihre Prognose: "In zehn Jahren, wenn wir uns von der Kontrolle von außen befreit haben, werden wir ein Referendum über unsere Nationalfahne abhalten. Wir Albaner machen schon jetzt 90 Prozent der Bevölkerung aus - was glauben Sie, was für ein Entwurf sich dann durchsetzt?"
Der Pharmaziestudent Bujan Muhaxheri hat dagegen gleich 16 Wettbewerbsentwürfe eingereicht mitgebracht. "Bestimmt schafft es einer davon", witzelt der Zwanzigjährige, "dann weht in einem halben Jahr meine Fahne über dem Kosovo." Vom Inhalt verrät er nur die Grundfarbe Blau und dass alle sieben ethnischen Gruppen des Kosovo in seinem Entwurf repräsentiert seien. Und der Museumsdirektor Arbër Hadri hat ebenfalls Blau als Grundfarbe für seinen Entwurf gewählt. Er beteiligt sich zusammen mit seiner Frau, einer Graphikdesignerin, an dem Wettbewerb. Der Inhalt ihres Entwurfs bleibt geheim.
Der zehnjährige Rigon Kurteshi aus dem ost-kosovarischen Gjilan ist von solchen Bedenken frei. Freizügig erlaubt der Schüler einer Kunstklasse einen Blick in seinen Umschlag. Darin leuchten drei bunte Entwürfe aus Rigons Tuschkasten. Seinen Namen hat er gleich auf die Rückseite geschrieben. "Mein Sohn will seinen Beitrag als zukünftiger Staatsbürger leisten", sagt der Vater. "Dabei sein ist schließlich alles!"
Insgesamt gehen bis zum Ende des Tages 944 Bewerbungen ein. Die Preisgelder für die drei besten Entwürfe sollen noch im Juli vergeben werden. Mit der endgültigen Auswahl des neuen Symbols und der Fahne will man aber bis zu dem Tag warten, an dem der endgültige Status des Kosovo geklärt ist.So lange will die albanische Unabhängigkeitsbewegung "Vetëvendosje" nicht warten. Ihre Anhänger demonstrierten noch Ende Juni gegen alle Verhandlungen und weitere Aufschübe und forderten die sofortige Unabhängigkeit für das Kosovo. Bei einer "Vetëvendosje"-Demonstration im Februar hatte es zwei Tote gegeben. Diesmal verlief der Demonstrationszug friedlich, die rote albanische Flagge wehte zu Dutzenden darüber. Gleich zu Anfang wurde ein riesiges Fahnentuch an einer Häuserwand in Pristina aufgezogen: blutrot, mit dem schwarzen Doppeladler.
Der Unterhändler der Vereinten Nationen, Matti Ahtisaari, hat in seinem Entwurf für die Zukunft des Kosovo eine "bedingte Souveränität" für das Kosovo unter Oberaufsicht der EU vorgeschlagen. Eine spezielle EU-Mission soll unter anderem darüber wachen, dass die Rechte der ethnischen Minderheiten gewahrt werden - nicht nur der Serben, sondern auch der im Kosovo lebenden Roma, Türken, Bosniaken, Aschkali und Kosovo-Ägypter.
Wenn die Entscheidung des UN-Sicherheitsrats über den endgültigen Status des Kosovo noch weiter hinausgeschoben wird, wird es wahrscheinlich zu einer einseitigen Unabhängigkeitserklärung aus Pristina kommen. Während von den USA auch für ein solches Szenario Unterstützung zu erwarten ist, zeigt sich die EU weiterhin gespalten über die Zukunft des Kosovo. Dennoch: Die Unabhängigkeit der Provinz scheint nur noch eine Frage der Zeit, und zumindest über die zukünftige Fahne sollte man sich bis zum Tag X geeinigt haben.