Türkei

Wahlkampf um Europa

Bei den türkischen Parlamentswahlen am 22.Juli wird der Wähler entscheidende Weichen für die politische Zukunft stellen. Nach dem Eingreifen des Militärs in die Präsidentschaftswahlen im April, das die Wahl des islamisch-konservativen Außenministers Abdullah Gül (AKP) durch eine Verfassungsklage verhinderte, formieren sich momentan die politischen Fronten  neu.Die aus einem Demokratisierungsprozess der islamischen Bewegung entstandene Regierungspartei für „Gerechtigkeit und Entwicklung” (AKP) favorisiert eine europanahe Reformpolitik, während die einst von Staatsgründer Atatürk initiierte „Republikanische Volkspartei” (CHP) die Europäische Union in diesem Wahlkampf nach den Worten des Parteivorsitzenden Deniz Baykal „als die Stützpfeiler der Republik angreifenden ausländischen Interessensverbände” bezeichnet.
 
Die Wahlen sind demnach richtungweisend für den gesamten Reformprozess in der Türkei und das Verhältnis zur EU. Ein Novum in der Türkei ist die Kandidatur von 780 unabhängigen Bewerbern. Sie setzen sich aus den in den vergangenen Jahren an der Zehn-Prozent-Hürde gescheiterten prokurdischen Parteien und Vertretern anderer linker Parteien zusammen, die eine noch radikalere europanahe Reformpolitik anstreben. Im Falle großer Stimmenanteile, wie sie die prokurdischen Parteien traditionell im Südosten erhalten, ziehen Unabhängige  gleichberechtigt mit den Partei-Kandidaten in das Parlament ein.


Wahlkundgebung der Erdogan-Partei AKP in Istanbul / Sabine Küper-Büsch, n-ost

Wahlkampf der AKP

Die Kommunikationswissenschaftlerin Edibe Sözen schreitet energisch durch eines der aufgeräumten, hübschen Wohnviertel des Stadtteils Kadiköy. Mädchen in bauchfreien T-Shirts schlendern Arm in Arm mit  ihren Freunden an der Strandpromenade zum Bosporus.  Ein typisches Viertel der oberen Mittelschicht.

Ein Tross von Wahlhelferinnen drückt den Passanten AKP-Wahlzettel mit dem Bild Edibe Sözens in die Hand. Die Professorin an der Universitaet Istanbul hat eine Zeit lang in den USA gelehrt hat und wurde mit einer Studie über die dritte Generation von Migranten in Holland, Deutschland und Österreich mit einem Forschungspreis der Stadt Ludwigshafen ausgezeichnet. Sie ist als Newcomerin in der Partei sehr gut platziert, steht an dritter Stelle auf der Kandidatenliste und wurde im Herbst 2006 als Medienberaterin von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan in den Parteivorstand gewählt. Auf die Frage, ob das Kopftuch der Ehefrau des AKP-Kandidaten Abdullah Gül der Grund für die Putschdrohungen des Generalstabs im April war lächelt sie ernst. „Um die Jahrhundertwende kam es zu öffentlichen Schleierverbrennungen in Istanbul, Beirut und Teheran. Die gebildeten  Frauen solidarisierten sich mit ihren um ihr Wahlrecht kämpfenden Schwestern in Europa. Ich sehe mich in dieser Tradition.” 

Die Aussage ist symptomatisch für den Paradigmenwechsel innerhalb der islamisch-konservativen Bewegung. Das Kopftuch ist nicht mehr Wahlkampfthema und auch auf den internen Veranstaltungen der Frauengruppe innerhalb der AKP sieht man verschleierte und unverschleierte Frauen zu gleichen Anteilen. Frauenrechte werden jetzt ernst genommen. Diese Liberalisierung brachte der AKP Pluspunkte aus vielen ihnen fern stehenden politischen Lagern. Dass dies noch nicht selbstverständlich ist, zeigen die prokurdischen Parteien im Südosten der Türkei. Von diesen wird die grassierende Gewalt in den Familien als marginales Thema großzügig ignoriert. Parallel dazu wehrt sich die AKP-Regierung seit Monaten dagegen, dem Militär grünes Licht für einen Einmarsch im Nordirak zur Bekämpfung der kurdischen PKK zu geben. Dementsprechend bahnt sich eine Annäherung der AKP zu den als unabhängige Kandidaten antretenden kurdischen Politikern an. Der Vorsitzende der „Partei für eine Demokratische Plattform” (DTP), Ahmet Türk,  erklärte bereits, dass die DTP-Fraktion im Parlament eine AKP-Minderheitsregierung tolerieren würde.
Der Einzug von unabhängigen Kandidaten ins Parlament könnte eine interessante Belebung der türkischen Demokratie auslösen. Dann würden mit großer Wahrscheinlichkeit kurdische, linke und islamisch-konservative Politiker eine europanahe Koalition bilden, wie der Kolumnist Gökhan Özgün von der Tageszeitung Radikal vergangene Woche vermutete. Ob Europa darauf vorbereitet ist?

Wahlkampf der CHP

Doch auch die Gegenseite kommt voran. Derzeit formiert sich mit großer Vehemenz eine nationalistische Welle in der Türkei. In unheilvoller Allianz solidarisieren sich sowohl CHP als auch MHP mit der Politik des momentan von dem Hardliner Yasar Büyükanit geführten türkischen Generalstabs, der durch die EU-Reformen einen Machtverlust befürchtet. In der Lesart des CHP-Vorsitzende Deniz Baykal ist die EU-nahe Politik der AKP Schuld am Bestehen des Kurdenkonfliktes. Dadurch würden Terroristen unterstützt. Im Istanbuler Vorort Ömerli erläutert der CHP-Kandidat Ali Topuz, was damit gemeint ist. Ömerli ist ein kleiner, armer Vorort. Ali Topuz steht vor dem dort neu eröffneten Parteibüro und verkündet, es bestünde eine Situation wie während der Niedergangsphase des Osmanischen Reiches als die europäischen Mächte die Türkei bereits unter sich aufgeteilt hätten. Die Zollunion mit der EU blute den türkischen Arbeiter aus, die AKP plane Zypern den Griechen zu schenken und unterstütze die Armee nicht den kurdischen Terror zu bekämpfen. Viele der Zuhörer beginnen sich fortzuschleichen, denn diese Verschwörungstheorien haben zu wenig mit der Realität der Menschen in Ömerli zu tun. Inzwischen unterscheidet sich die einst als sozialdemokratisch-kemalistisch eingestufte CHP nicht mehr wesentlich von Positionen der ultranationalistischen „Nationalistischen Bewegungspartei” (MHP). Früher ganz klare politische Gegner, werden CHP und MHP im Falle eines wahrscheinlichen Einzugs beider Parteien in das Parlament als potentielle Koalitionspartner gehandelt. 


Weitere Artikel