Estland

Verschleppter Kampf gegen HIV

Über 6.000 Menschen sind in Estland offiziellen Zahlen zufolge mit dem HI-Virus infiziert - eine hohe Zahl für ein Land mit nur 1,35 Millionen Einwohnern. Und die Dunkelziffer dürfte wie so oft um Einiges höher liegen. Für viele Betroffene waren die neuesten Pläne des Finanzministeriums ein Schock: Obwohl die Haushaltseinnahmen steigen, sollen die für HIV-Therapien vorgesehenen Mittel auf ein Siebtel zusammengestrichen werden. 146,3 Millionen estnische Kronen (9,35 Millionen Euro) hatte das Sozialministerium ursprünglich gefordert, nur 21 Millionen Kronen sollen zur Verfügung gestellt werden. Dabei wächst der Finanzbedarf zur Bekämpfung der Seuche stetig - immer mehr der vor Jahren Infizierten erkranken inzwischen. Außerdem stellt die Hilfsorganisation "Global Fund" im Herbst ihre Unterstützung für die estnischen HIV- und Aids-Programme ein.

Nicht nur bei den Therapien, auch bei der Prävention hapert es in Estland. Dabei sind die häufigsten Übertragungswege bekannt: Besonders häufig betroffen sind Drogensüchtige - ein Problem, das auch andere osteuropäische Staaten kennen. Aber Estland hat auch einige Spezifika aufzuweisen: In kaum einem europäischen Land sind die Infizierten so jung. Bis zu 65 Prozent sind nach Zahlen der Weltgesundheitsorganisation WHO unter 25 Jahren alt. Besonders betroffen ist außerdem die strukturschwache östliche Region Ida-Virumaa, hinzu kommen Teile von Tallinn und Städte wie Paldiski. Was in Estland jeder weiß, aber kaum jemand laut sagt: Die Gebiete mit der höchsten HIV-Infektionsrate sind zugleich die Hochburgen der russischen Minderheit. Diesen heiklen Punkt offen anzusprechen gilt als politisch nicht korrekt. Nach den Zusammenstößen der Polizei mit russischen Jugendlichen infolge der Versetzung eines Sowjetdenkmals im April erst recht nicht.

Ein weiteres Einfallstor für HIV ist die Prostitution. Erst vor wenigen Wochen kam es zum Skandal: Das Bildungsministerium hatte bei dem Regisseur Jaano Rässa und dem Redakteur Mart Raukas einen Aufklärungsfilm zu dem Thema in Auftrag gegeben, der an estnischen Gymnasien gezeigt werden sollte. Estnische Frauenorganisationen liefen Sturm: "Der Film ruft die Jugendlichen geradezu auf, sich für die Prostitution als Beruf zu entscheiden", hieß es in einem offenen Brief der Organisation "Naisteühendus Ümarlaud" (Runder Tisch des Frauenbundes). Aus dem Bildungsministerium selbst hieß es, man halte den Film sowohl technisch wie inhaltlich für "mittelmäßig", sehe darin aber keine Propagierung der Prostitution. Kommentatoren kritisierten weiter, dass das Projekt aus Steuergeldern finanziert wurde. Vor allem aber: Von den Risiken einer Infektion mit HIV ist in dem Film nicht die Rede.

Ein isolierter Vorfall? Keineswegs: So zitierte eine estnische Tageszeitung unkommentiert eine Umfrage, wonach 33 Prozent der in Estland aktiven Prostituierten 9.000-15.000 estnischen Kronen (575-959 Euro) oder sogar noch mehr im Monat verdienten, 24 Prozent erzielten ein Einkommen zwischen 5.000 und 9.000 Kronen (319-575 Euro) - bei einem landesweiten Durchschnittslohn von 10.000 Kronen immer noch ein ordentliches Gehalt, vor allem für gering qualifizierte Frauen aus dem armen Osten des Landes. 92 Prozent der Befragten erklärten denn auch, die guten Verdienstmöglichkeiten seien ihr Motiv gewesen, sich zu prostituieren. Etwaige Hinweise auf psychische oder gesundheitliche Risiken der Prostitution unterblieben in dem Artikel.

Estland betrachtet sich lieber als Teil Skandinaviens denn als osteuropäisches Land und folgt bei seiner Gesetzgebung gerne dem Vorbild von Ländern wie Schweden oder Finnland. Während diese aber den Sexhandel zunehmend unter Strafe stellen, ist Estland trotz seiner hohen HIV-Rate in diesem Punkt bislang nicht nachgezogen. Zwar wurden öffentliche Bordelle zurückgedrängt, aber dafür floriert die Prostitution in Wohnungen und auf der Straße, wo sie sich entsprechend schlecht kontrollieren lässt. Die Verschärfung der Gesetze in Schweden und Finnland hat überdies die Zahl der Freier, die aus diesen Staaten ins Baltikum fahren, ansteigen lassen, und längst kommen viele skandinavische Touristen nicht nur wegen der romantischen mittelalterlichen Altstadt oder der niedrigeren Alkoholpreise nach Tallinn. Auch diese Entwicklung ist keineswegs überall unerwünscht. So erklärte der stellvertretende Tallinner Bürgermeister Ivar Virkus noch vor wenigen Jahren: "Helsinki und Tallinn werden zu einer Zwillingsstadt zusammenwachsen. Dabei wird Helsinki vor allem die Wissenschafts- und Industriehälfte sein, Tallinn hat die Möglichkeit, die Rolle des Monte Carlo zu übernehmen."

Als besonders stark gefährdet durch HIV gelten schließlich die Insassen in den Gefängnissen. Die Haftbedingungen sind oft skandalös, Drogenmissbrauch und Gewalt sind an der Tagesordnung. Doch auch hier werden Versuche erstickt, das Thema an die Öffentlichkeit zu bringen. Auf den Tallinner Filmtagen sollte im März dieses Jahres ein Dokumentarfilm mit dem Titel "Peegeldus" (= Reflektion) gezeigt werden, der den Alltag in einem Jugendgefängnis schildert. In letzter Minute wurde der Film vom Programm gestrichen. Der Grund: Die Gefängnisleitung protestierte gegen die allzu realistischen Prügelszenen.

Nicht alle wollen diese Taktik aus Verschleierung und Verharmlosung weiter hinnehmen: Anfang Juli wandten sich 16 Organisationen an die Regierung und protestierten gegen die beschlossene Reduzierung der Zuschüsse für HIV-Patienten. "Die Kürzungen bei den Therapien bedeutet für viele hundert junge Menschen eine Zunahme des ohnehin vorhandenen Stigmas und eine Diskriminierung HIV-positiver Menschen", erklärten die Unterzeichner in einem offenen Brief, der von mehreren großen Tageszeitungen abgedruckt wurde. Und die Unterzeichner erinnerten auch daran, dass sich Estland auf einer Sonderkonferenz der UNO-Vollversammlung 2001 dazu verpflichtet habe, den Zugang zu den notwendigen Therapien zu unterstützen.


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