Frauen als Privateigentum des Mannes
Pinar hat die Zeit verloren. Die 20-Jährige hat aufgehört die Tage und Monate zu zählen, seit sie getrennt von ihrer Familie lebt. Ihre Augen wandern umher. Suchen ihren Weg entlang des Asphaltes vorbei an Straßenkreuzen, Fassaden, Mauern und Hinterhöfen. Ihren richtigen Namen will sie nicht verraten, zu groß ist die Angst, dass ihr jene Geschichte die sie zu erzählen hat zum Verhängnis wird. Seit jene Bande zerrissen, die sie zu einem Teil ihrer Familie machten, muss die junge Türkin befürchten das Opfer eines Mordes aus Ehre zu werden. Mit 18 wurde sie verheiratet. "Gegen meinen Willen", wie sie sagt. Die Widerworte, die sie ihrem Vater gab, verhallten ungehört. Unglücklich beugte sich die junge Frau dem Druck der auf ihr lastete. Kurz war die Zeit die sie mit ihrem Ehemann verbrachte. "Ich fühlte mich, als hätte ich meinen Körper gegen Geld verkauft", gewährt sie Einblick in das was als zwangsverheiratete Frau in ihr vorging. "Ich dachte an Selbstmord und litt an Depressionen." Nach acht Monaten, in denen sie nicht nur von ihrer eigenen Familie, sondern auch der ihres Mannes drangsaliert wurde und Schläge erdulden musste, hielt sie es nicht mehr aus. Pinar packte ihre Sachen und verschwand in der Anonymität der Millionenstadt am Bosporus, Istanbul.
Tradition und Moderne / Daniela Haussmann, n-ost
Wie Pinar geht es vielen Frauen in der Türkei. "Rund 40 Prozent der Frauen werden zwangsweise verheiratet, 71,6 Prozent werden Opfer häuslicher Gewalt", so Menschenrechtsanwältin Hülya Gülbahar. "In den Familien gibt es Gewalt auf Grund der gesellschaftlichen Normen die menschenunwürdig, aber für Frauen vorgeschrieben sind. Jede Frau die sich dagegen stellt, wird mit Gewalt konfrontiert." Nach den letzten verfügbaren Zahlen aus dem Jahr 2001 haben damals 907 Frauen Selbstmord als den einzigen Ausweg aus ihrem Dilemma betrachtet. "Die Mehrheit der Männer sagt, dass ihre Frau zu Hause bleiben und auf ihre Kinder aufpassen soll", sagt die Juristin. "In diesem Satz ist alles versteckt. Die Frau wie die Kinder sind Privateigentum des Mannes." Professorin Nükhet Sirman, Anthropologin am soziologischen Institut der Bogazic Universität Istanbul, meint: "Frauen sind Mechanismen für den Schutz der kulturellen Grenzen der Gemeinschaft. Sie sind damit Träger wie Wächter der Tradition und das sozial wie biologisch. Frauen werden damit nicht als Individuum wahrgenommen, sondern als Trägerinnen kollektiver Normen und Werte die es unter allen Umständen zu schützen und zu wahren gilt."
"Meine Eltern wurden zwangsverheiratet", erklärt Pinar das fehlende Verständnis der Eltern für ihre Wünsche und Bedürfnisse. "Meine Mutter wurde von meinem Vater geschlagen. Gewehrt hat sie sich nie." Gewehrt hat sich auch die Schwester von Zehra Ginar nicht. Die wurde von ihrem Mann geschlagen und vergewaltigt. Zehra lehnte sich gegen ihren Schwager auf, drängte ihre Schwester ihn zu verlassen. Dafür schwor er den beiden Frauen sie umzubringen. Mit einem Gewehr durchschoss er mehrfach Zehras Bein. Narben die sie heute nicht nur auf ihrer Haut, sondern auch auf der Seele trägt. Von der Familie allein gelassen kämpfte sie einsam gegen die Herrschaft, die ihr Schwager gegenüber ihrer Schwester ausübte. Schwer verletzt überlebte ihre Schwester, deren Mann zunächst zu einer Gefängnisstrafe von drei Jahren verurteilt, dann aber nach zwei Monaten entlassen wurde. "Wegen guter Führung", berichtet die 46-Jährige mit einem Lächeln, dem ein tiefer Seufzer folgt.
In der Türkei ist vieles zum Schutz der Frau in Gesetzen festgeschrieben worden. "Woran es fehlt ist die Umsetzung in der Praxis", kritisiert Selen Lermioglu Yilmaz von der Menschenrechtsbewegung Ari Hareketi. "Es müssten sich mehr Frauen politisch engagieren und ins Parlament gewählt werden. Gerade einmal 4,36 Prozent der 550 Abgeordneten auf Staatsebene sind weiblich. Noch immer machen Männer Gesetze für Frauen. Damit sitzen bei wichtigen Entscheidungen Männer am längeren Hebel in der Türkei." Lediglich 25 Prozent der Türkinnen sind berufstätig. Diese Zahl ist laut Gülbahar im Sinken begriffen.
"Offiziell liegt die Arbeitslosenrate bei zehn Prozent, aber inoffiziell sind es 25 Prozent", erläutert Nükhet Sirman die weiteren Hintergründe. "In der Türkei dominiert noch immer das männliche Ernährermodell. Frauen haben es damit schwerer eine Arbeit zu finden. Gleichzeitig ist in den von Arbeitslosigkeit betroffenen Familien das Gewaltpotential höher, weil die Männer ihre Frustration darüber, dass sie ihre Ernährerfunktion nicht erfüllen können, mit Schlägen abbauen." Dennoch sei es nicht unmöglich für Frauen auch in der türkischen Männergesellschaft Karriere zu machen. Voraussetzung sei allerdings, dass sie von den noch weitestgehend vorherrschenden großfamiliären Strukturen in ihrer beruflichen Zielsetzung unterstützt würden. "Dass aber nur sieben Prozent der Führungskräfte in der Türkei weiblich sind, spricht für sich", relativiert Gülbahar die Aussicht, dass Frauen in der Männergesellschaft ganz nach oben kommen.
65,5 Prozent jener Frauen die einer außerhäuslichen Tätigkeit nachgehen würden dies schwarz tun. "Das Jahreseinkommen einer Frau liegt 65,4 Prozent unter dem eines Mannes", verdeutlicht die Juristin weiter das Gefälle zwischen den Geschlechtern. "Damit sind Frauen in der Türkei häufiger von Armut betroffen als Männer. Gleichzeitig stehen sie in einem Abhängigkeitsverhältnis vom Ehepartner." Im Osten des Landes seien es 93,5 Prozent der weiblichen Bevölkerung die überhaupt kein Einkommen hätten. Im Westen wären es 74,6 Prozent. "Das sind Zahlen der offiziellen türkischen Statistik", so die türkische Karrierefrau, die sich unter anderem im Fernsehen für die Gleichberechtigung nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis stark macht.
Schätzungsweise jede fünfte Frau in der Türkei ist Analphabetin. Eine Zahl die Pinar nicht verwundert. "Mein Vater ließ mich nur bis zur fünften Klasse die Schule besuchen", blickt die 20-Jährige auf jene Jahre zurück, die ihre Kindheit und Jugend beschreiben. "Für ihn stand fest, dass ich keine Ausbildung brauche, denn ich würde ja heiraten und Kinder kriegen." Von ihrer Mutter konnte sie kein Verständnis erwarten. "Sie hatte nie die Schule besucht. Sie war Analphabetin", erzählt die junge Frau, die in einem der 30 Frauenhäuser, die es landesweit gibt, Zuflucht gefunden hat.
"Der Staat muss die Gesetze und Gremien, die er geschaffen hat endlich nutzen. Er muss die Judikative und Exekutive zwingen, die Gesetze wie die Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Ehe umzusetzen", fordert Hülya Gülbahar. "Es gibt Gerichte und Polizeiwachen, die der Gewalt an Frauen nachgehen, es gibt aber auch solche, die Derartiges als Kavaliersdelikt abtun und die Betroffenen nach Hause schicken." Momentan gehe ein Ruck durch die türkische Gesellschaft, bei dem Befürworter und Gegner der Frauenfrage öffentlich Streitgespräche führen. In zwanzig Jahren sei einiges von den Feministinnen erreicht worden. Doch man dürfe die Türkei in dieser Hinsicht nicht mit Europa vergleichen, wo die Frauenbewegung auf eine längere Geschichte zurück blickt.
"Dass diese Probleme in einem öffentlichen Diskurs angesprochen werden", erklärt Gülbahar, "und dass Frauen auf die Straße gehen, um auf die Missstände aufmerksam zu machen, auch wenn Polizisten die Demonstrationen gewaltsam auflösen, ist ein enormer Fortschritt." Auch, dass per Gesetz im Jahr 2002 abgeschafft wurde, dass allein der Mann das Familienoberhaupt ist, sei ein weiterer wichtiger Schritt zu mehr Gleichberechtigung. "Derzeit wird dafür gekämpft, dass eine Frauenquote in der Politik eingeführt wird", fährt die 46-Jährige fort. "Und dafür, dass die Gesetze so praktiziert werden, wie sie festgeschrieben sind. Es gibt viele die sich eine Veränderung wünschen", erklärt Gülbahar.
"Die Türkei ist an einem Punkt angelangt, wo sich zahlreiche Bürger ein Abkommen von den alten Traditionen und eine weitergehende Modernisierung wünschen."Die Anthropologin Nükhet Sirman fordert zudem, dass der Staat in der Sozialpolitik mehr Verantwortung übernehmen muss: "Alle Aufgaben, die normalerweise der Wohlfahrtsstaat übernimmt, wurden vom türkischen Staat in die Familien transferiert." Deshalb seien Frauen beispielsweise auf die finanzielle Unterstützung ihrer Familien angewiesen, wenn sie studieren wollten, denn der Staat stelle umfangreiche finanzielle Leistungen nicht zur Verfügung.
Pinar hat es nicht leicht: "Ohne das Frauenhaus das mir die Möglichkeit bietet hier kostenlos zu schlafen und zu essen, müsste ich zurück zu meinem Ehemann." Derzeit belegt sie verschiedene Kurse, darunter einen Computer-Kurs, mit dem sie sich beruflich qualifizieren will. Denn abhängig will Pinar nicht sein. Wie viele junge Frauen in der Türkei möchte sie ihren eigenen Weg gehen. So versucht sie jetzt die Scheidung von ihrem Mann durchzusetzen, um das was war, hinter sich zu lassen.