"Ich frage mich, ob ich bald pleite gehe"
EU-Standards für Käsemacher werden immer wieder verschoben - existenzbedrohend bleiben sie dennochVeseud (n-ost) - Müsste Ion Baciu einen Lebenslauf schreiben, er würde kurz ausfallen: Von der Schule geflüchtet, um endlich Schäfer zu werden. Ein Leben lang. Tausende Kilometer in den Füßen. Wetterresistent. Der 64-Jährige hat fast das Rentenalter erreicht, doch kann er es "im Höchstfall zwei Tage ohne Schafe aushalten" - also bleibt er Schäfer, so lange er kann. Er besitzt auf seinen satten Wiesen im siebenbürgischen Veseud eine improvisierte Almhütte aus Kochnische, Schlafraum, einem Lager für Kartoffeln, Kraut und Mais sowie einer Käsekammer. Selbst gezimmert. Strom gibt es keinen und das Wasser stammt aus Quellen. Vor der Hütte lungern Hunde im Schatten, Baciu treibt in der Hitze 1000 Schafe vor sich her, sie kommentieren es blökend. Eine naturbelassene Szene, alltäglich für das rumänische Agrarland, Westler würden Öko-Oase dazu sagen. Für Brüssel ist das nicht EU-Markt-tauglich.
Melken im Akkord von 1000 Schafen - zweimal täglich
Annett MüllerSpeziell die Zahlen 852-854/2004 bereiten Baciu und vielen anderen Schäfern in Rumänien Kopfzerbrechen. Studiert hat der Hirte die drei Brüsseler Verordnungen bislang nicht, sie enthalten die Hygienevorschriften für eine Lebensmittelproduktion in der EU. 2004 verabschiedet, räumten sich die damaligen EU-Länder eine Übergangsfrist von knapp anderthalb Jahren ein, um sich auf die neuen Regelungen einzustellen. Mitte Januar 2007 - Rumänien war gerade zwei Wochen in der EU - erfuhr auch Baciu von den Vorschriften. In seinem batteriebetriebenen Radio hörte er, dass für die Käsemärkte des Landes ungewohnte Auflagen gelten. Aus heiterem Himmel kam die EU über Schäfer, Händler, Verbraucher. Die Nationale Veterinär- und Sanitärbehörde (ANVSAS) hatte die EU-Regelungen ohne Übergangsfrist eingeführt. Kein Wunder, dass Protest folgte, den die Behörde mit einer Schonfrist von einem Jahr beschwichtigte. "Wir verlangen nur, dass Rumänien seine EU-Auflagen erfüllt", sagt ANVSAS-Generaldirektor, Liviu Rusu, "das erwartet Brüssel von einem Schäfer in den Alpen und das gilt jetzt ebenso für einen Schäfer in den Karpaten." Rusu klingt bei diesem Satz eher wie ein aus Brüssel entsandter Beamter, statt wie ein rumänischer Bediensteter, der nationale Interessen vertritt.Der Manager Vasile Bratu gehört zu Bacius Team, er vertreibt die Milchprodukte des Schäfers. 1000 Kilo Schafskäse monatlich sind bislang auf der Almhütte entstanden, der von Zwischenhändlern aufgekauft und rumänienweit auf Märkten vertrieben wird. "Am Käsegeschäft können viele verdienen", sagt Bratu, der die Buchhaltung koordiniert, mit den Behörden verhandelt und spürt, dass "die weit weg von unserem Lebensalltag sind". Will Bratu noch in Zukunft frischen Schafskäse landesweit verkaufen, muss die Almhütte in Veseud nicht nur geflieste Wände in steinernen Räumen vorweisen, sondern auch getrennte Kammern für Produktion und Lagerung sowie Kühlräume. Hinzu kommen Auflagen für den Transport, auch muss der Käse beim Landwirtschaftsministerium als traditionelles Produkt angemeldet werden.Für Schäfer Ion Baciu hieße das investieren, ein Darlehen aufnehmen, aber welches Bankinstitut gewährt ihm jetzt kurz vor der Rente noch einen Kredit? Der Schäfer hat in den vergangenen Jahren immer wieder investiert, die Zahl seiner Schafe aufgestockt, seine eigenen Hygienevorschriften aufgestellt. Er hat einen Steinboden in der Käsehütte angelegt, damit es nicht mehr so staubt, er hat eine Bäuerin für die Käsezubereitung engagiert, "weil Frauen immer sauberer sind". Mit sieben weiteren Gehilfen kümmert sich Baciu um seine 1000 Schafe, die täglich früh und abends per Hand gemolken werden. Pure Kleinarbeit, die sich nur wegen des ländlichen Minimallohns rechnet. "Inzwischen frage ich mich aber, ob ich demnächst als Schäfer nicht pleite gehe", sagt Baciu. Für Rumänien, wo Schafzucht eine lange Traditionen hat, eine unvorstellbare Perspektive. Es gehört mit rund sieben Millionen Schafen EU-weit zu den führenden Ländern der Schafzucht-Branche. Doch steckt dahinter kein Industriezweig mit Massenproduktion, sondern kleinteilige Strukturen, die oft nur das eigene Überleben sichern: Über eine halbe Million Schäfer und ihre Familien leben von der Branche. "Dennoch werden sie keine Massenproteste wie bei den Bauern in Frankreich erleben, weil bei uns jeder für sich wirtschaftet", sagt Vasile Bratu. Mit dem EU-Beitritt geht es den Kleinproduzenten jedoch gemeinschaftlich ans Eingemachte: In einem halben Jahr müssen sie nach EU-Hygieneregeln produzieren, wollen sie weiterhin ihren Käse im Freiverkauf anbieten, wollen sie weiterhin ein sicheres Einkommen daraus haben. Gerade mal fünf Prozent der potenziellen Kleinproduzenten hat sich bisher bei der Nationalen Veterinär-Behörde registrieren lassen, wer sich nicht meldet, gibt entweder auf oder verkauft den Käse unter der Hand. ANVSAS-Generaldirektor Liviu Rusu sieht die Situation gelassen: "Wer investieren will, macht dies, wer nicht, nicht. Niemand ist verpflichtet, etwas zu verkaufen."Rupert Wolfe Murray hat sich schon oft über die rumänischen Behörden gewundert. Seit Jahren arbeitet der Schotte als freiberuflicher Berater für Ministerien, "die die Brüsseler Regelungen viel zu häufig mit blindem Gehorsam umsetzen". Welche Folgen die Bestimmungen nach sich ziehen, wird selten bedacht. Für Bukarest scheint das Leben auf dem Land weit weg zu sein, sagt Murray, auch wenn immerhin fast 40 Prozent aller Rumänen dort leben. "Man schämt sich für die Landbevölkerung, deren Lebensweise nicht als ökologisch gilt sondern als rückständig. Das opfert man gern für ein paar EU-Bestimmungen." Dass damit autarke Lebensmodelle bedroht sind, kommt den Behörden nicht in den Sinn. Wohin mit den Bauern, wenn ihre Einkommensquellen versiegen? In die Stadt, in eine würdelose Armut? Fragen, die ein britischer Kollege Murrays einem Beamten im Bukarester Landwirtschaftsministerium stellte. Die Antwort folgte prompt: "Machen Sie sich keine Sorgen, die Landbevölkerung ist arm und überaltert. Bald wird sie nicht mehr da sein."Bei Ion Baciu riecht ein Tag wie der andere: nach Ziegenmilch. Bis zu 600 Liter gewinnt der Schäfer pro Tag. Hin und wieder macht er Käse daraus, für den Eigenbedarf. Der ist von den EU-Regeln unberührt und wird für viele Kleinproduzenten ein Hintertürchen bleiben - Interessenten für den Eigenbedarf finden sich sicherlich viele. Mittel und Wege, rumänische Behörden zu umgehen, sind im Land immer gefunden worden, warum sollte das mit der EU anders sein? Schäfer Baciu hat die Käseproduktion für den Freiverkauf bereits aufgegeben, sein Manager Vasile Bratu hat es ihm geraten: "Die westlichen Milchproduzenten warten doch nur darauf, den rumänischen Markt zu übernehmen. Sie erfüllen die EU-Hygienestandards längst". Jeden Morgen fährt im rumänischen Veseud ein Tankwagen vor, er holt die nahrhafte und über Nacht pasteurisierte Schafsmilch ab. Zu einem Billigpreis: Ein Liter kostet rund 50 Cent, es ist die Hälfte des deutschen Marktpreises. Stunden später wird Bacius Milch in einer Molkerei verarbeitet. Sie steht in Griechenland und produziert Feta für den Export - der vermutlich nicht nur nach Deutschland, sondern auch nach Rumänien gehen wird.ENDE
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