Polen

Klein-Europa hat bunte Wände

Wenn sie Besuchern die Street Art der Stadt zeigt, verfällt Joanna Stembalska in einen aufgeregten Laufschritt. Die zierliche Frau rennt mit wehendem Mantel über die Hauptstraße, biegt in eine Toreinfahrt ein und stoppt schließlich vor einem verfallenen Altbau. An der Giebelseite prangt ein mehrere Meter hoher Roboter in Weiß, Rot und Schwarz. „Das hat der französische Künstler Remed gemalt. Er hat sich extra diesen Platz hier ausgesucht, weil die Umgebung so trist ist. Sein Bild ist ein Farbtupfer.“

Der Roboter ist eines von über 50 Werken, die sich über die Häuserwände und Mauern Breslaus verteilen. Internationale Künstler haben sie gestaltet, unter sind Größen der Szene wie der Italiener Erica Il Cane. Sein Markenzeichen sind großformatige, märchenhafte Tiere, die mit viel Liebe zum Detail ausgestattet sind. Sein Landsmann Blu vermittelt in seinen stilisierten Phantansiezeichnungen stets eine politische Botschaft.


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Entstanden sind alle Bilder im Rahmen des Festivals „Out of Something“, das bereits zweimal in den vergangenen drei Jahren stattgefunden hat. Die Bilder machen Breslau nicht nur zur polnischen Hauptstadt der Street Art, sondern nun auch zur europäischen Hauptstadt der Kultur für das Jahr 2016.
„Kunst im öffentlichen Raum war ein ganz entscheidender Teil unserer Bewerbung um den Titel“, sagt Roland Zarzycki, einer der Autoren der Bewerbung. „Wir wollen uns als bunte, offene, multikulturelle Stadt präsentieren. Breslau ist, wenn man es so will, ein Europa in Klein.“

Breslau hat seine Nationalität und damit seine Identität im Laufe der Geschichte häufig gewechselt. Die Bevölkerung wurde nach dem Zweiten Weltkrieg einmal komplett ausgetauscht. Die Deutschen mussten gehen, dafür ließen sich die Ostpolen aus den Gebieten, die nach dem Zweiten Weltkrieg der Sowjetunion zufielen, in der Stadt nieder. Es wanderten Menschen aus unterschiedlichsten Kulturkreisen zu, viele Minderheiten mussten sich miteinander arrangieren. „Wir verkörpern insofern das europäische Modell und zeigen, dass es funktioniert“, so Zarzycki.

Auch bei Breslaus Bewohnern kommt die Street Art gut an. „Feine Sache! Endlich macht die Stadt hier mal was!“, ruft ein alter Mann aus seinem Fenster im dritten Stock. Sein Blick fällt direkt auf den bunten Roboter an der Hauswand gegenüber. Pawel Jarodzki, Mitinitiator des Festivals, der heute mit seiner Kollegin Joanna Stembalska durch die Stadt fährt, winkt dem alten Mann zu und bedankt sich.

„Viele Einwohner sind auf die Stadtregierung nicht gut zu sprechen, weil sie nichts saniert“. Die Stadt lässt manche Viertel nahezu verfallen. Ein Grund, weshalb Jarodzki und Stembalska die Genehmigungen für die großen bunten Bilder an Breslaus Wänden sofort bekommen haben. „Die Stadt lässt uns machen. Sie profitiert ja auch davon.“ Jarodzki spielt auf den Image-Gewinn an, den sich die Regierung durch die Förderung der Kunstszene erkauft. Es ist ein Deal, von dem beide Seiten profitieren.

Geld für das Festival kam aber nicht nur aus Breslau, sondern auch aus dem Kulturministerium in Warschau. Der zuständige Minister Bogdan Zdrojewski, selbst viele Jahre Stadtpräsident in Breslau, hat seine Stadt schon häufiger finanziell bedacht. Der letzte Zuschuss floss unmittelbar vor der Entscheidung über den Titel Europäische Kulturhauptstadt. Der Geldsegen aus Warschau weckte den Verdacht, die Regierung wollte die Kulturszene Breslaus noch einmal ordentlich ankurbeln, um die Entscheidung der Jury zu Gunsten der Stadt zu beeinflussen.

Für einen Moment sei dieser Gedanke auch in ihm aufgekommen, gibt Mariusz Waras zu. Der 33-jährige Grafiker lebt und arbeitet normalerweise in Danzig. Auch seine Stadt hatte sich um den Titel beworben. Doch Waras freut sich nun für Breslau. Und vor allem für das Festival. Er selbst hat sich während der letzten Ausgabe von „Out of Something“ mit einem großen Schwarz-Weiß-Bild neben einer Bahntrasse verewigt. Sein düsteres Werk zeigt einen Zug, der in die Tiefe stürzt. Nur der Rauch eines zweiten Zuges hindert ihn am Fallen.

Waras kennt die Ängste viele seiner Kollegen, das Festival könne nun an Charme verlieren und zu kommerziell werden. Doch er vertraut auf die Kuratoren, dass das Festival sein Niveau halten wird. „Die Regierenden wissen, was sie an ihrer unabhängigen Kunstszene haben. Die werden sich da nicht einmischen. Die sehen doch, dass es funktioniert.“

Im Frühjahr 2012 wird „Out of Something“ wieder stattfinden. „Ich habe in meinem Schlafzimmer eine große weiße Wand“, ruft der alte Mann aus seinem offenen Fenster. „Können Sie nicht auch mal zu mir kommen und was Schönes malen?“ Stembalska und Jarodzki lachen und rufen ihm zu: „Wir fragen die Künstler. Vielleicht haben Sie Glück.“


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