„Sind wir mitschuldig, weil wir den Genozid nicht verhindert haben?“
Der abtretende internationale Bosnien-Beauftragte Christian Schwarz-Schilling sieht Europa in Bosnien-Herzegowina und dem Kosovo in der Pflicht
Sarajevo (n-ost) – Der abtretende internationale Bosnien-Beauftragte Christian Schwarz-Schilling wirft der deutschen EU-Ratspräsidentschaft vor, sich zuwenig um Bosnien-Herzegowina gekümmert zu haben. Im Interview mit dieser Zeitung warnte er davor, wegen des Streits um das Kosovo die Probleme in Bosnien-Herzegowina zu vernachlässigen.Eines seiner wichtigsten Ziele hat Christian Schwarz-Schilling in den 17 Monaten als Hoher Repräsentant nicht erreicht: Die Unterzeichnung eines Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Bosnien-Herzegowina. „Die Tonart der hiesigen Politiker im Umgang miteinander hat sich in manchmal unerträglicher Weise verschlechtert, die Reformentwicklungen stagnieren“, zieht Schwarz-Schilling ernüchtert Bilanz. Schaue man auf die Nachbarländer, laufe Bosnien-Herzegowina deshalb Gefahr, letzter zu werden auf dem Weg der europäischen Integration. Doch er sieht nicht nur die Politiker vor Ort in der Verantwortung, sondern auch Europa selbst: „Es herrscht in Brüssel noch immer die Vorstellung 'Wenn die nicht wollen, dann sollen sie's halt bleiben lassen'.“ Dies sei eine „völlige Verkennung unserer historischen Aufgabe – nach den Menschenrechtsverletzungen auf dem Balkan, die wir zugelassen haben“, sagte Schwarz-Schilling.„Das Land braucht eine besondere, maßgeschneiderte Hilfe. Wir haben eine Bringschuld, weil wir in den 90er-Jahren Fehleinschätzungen vorgenommen haben.“ Unter diesen Vorzeichen hätte sich „die deutsche EU-Ratspräsidentschaft etwas mehr um Bosnien-Herzegowina kümmern können.“
Christian Schwarz-Schilling (rechts) zusammen mit Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier
Norbert RütscheBezug nehmend auf das Urteil des Internationalen Gerichtshofes (IGH) in Den Haag von Ende Februar, in dem Serbien für schuldig befunden wurde, nicht genug zur Verhinderung des Genozids an 8000 Muslimen in Srebrenica im Juli 1995 getan zu haben, meinte Schwarz-Schilling: „Auch die europäischen Nationen müssen sich die Frage stellen: Sind wir mitschuldig, weil wir den Genozid nicht verhindert haben?“ Aber offensichtlich habe Europa noch gar nicht begriffen, „dass es ja eigentlich genauso angesprochen ist“. Die Frage sei zu stellen, ob die europäischen Nationen als Mitglieder von EU und Nato nicht eher in der Lage gewesen wären, den Völkermord zu verhindern „als Serbien, das ja durch und durch von der Diktatur der damaligen kommunistischen Partei im falschen Sinne programmiert war“.In der Kosovo-Frage wirft der erfahrene Balkan-Kenner Christian Schwarz-Schilling der internationalen Gemeinschaft ebenfalls Unentschlossenheit vor. Nach den Menschenrechtsverletzungen in der südserbischen Provinz in den 1990er-Jahren hätte die Klärung der Zukunft des Kosovo und seiner rund zwei Millionen Einwohner schon beim Dayton-Abkommen Ende 1995 oder kurz danach an die Hand genommen werden sollen. Doch man habe nichts gemacht und „abgewartet, bis fast 800'000 Menschen aus dem Kosovo flohen, weil die Bedingungen unerträglich geworden waren.“ Auch nach dem Kosovo-Krieg habe die internationale Gemeinschaft nicht gehandelt – und habe jetzt natürlich Probleme, sich durchzusetzen. „Denn was man Milosevic gegenüber nicht getan hat, ist jetzt viel schwieriger gegenüber einer quasi-demokratischen Regierung zu tun. Das war sicherlich keine kluge Politik der internationalen Gemeinschaft.“Christian Schwarz-Schilling ist ein klarer Befürworter des Planes von UN-Vermittler Martti Ahtisaari, der für das Kosovo eine von der EU überwachte Unabhängigkeit von Serbien vorsieht. Die EU soll mit der größten zivilen Mission ihrer Geschichte die Umsetzung des Plans gewährleisten. Schwarz-Schilling übte scharfe Kritik an der Tatsache, „dass Kosovo heute zu einem diplomatischen Spiel auf hoher politischer Bühne geworden ist“. Zum Streit zwischen Washington und Moskau um die Stationierung eines US-amerikanischen Raketenabwehrsystem in Osteuropa und eine mögliche Verknüpfung mit der Kosovo-Frage sagte er: „Pakete, die nicht zusammengehören, gebären neue Fehler. Von dieser Art von Deals halte ich nichts. Hier muss man nun endlich dem Lande dienen.“ Sollte der Ahtisaari-Plan im UN-Sicherheitsrat kein grünes Licht bekommen, befürchtet Schwarz-Schilling „eine unkontrollierte Unabhängigkeit mit Gefahren, die die internationale Gemeinschaft wieder selbst zu verantworten hat.“Doch Christian Schwarz-Schilling warnte davor, dass in der internationalen Gemeinschaft – vor allem in der EU – aufgrund des Streits der Weltmächte das Kosovo-Problem für viel wichtiger gehalten werde als Bosnien-Herzegowina. Das sei eine „völlige Fehleinschätzung“. Schwarz-Schilling bezeichnete den Minderheitenschutz als die eigentliche Herausforderung in der seit 1999 von der Uno verwalteten und zu 90 Prozent von ethnischen Albanern bewohnten serbischen Provinz. „In Bosnien-Herzegowina dagegen ist die Mitwirkung der verschiedenen Volksgruppen als Mehrheit oder Minderheit praktisch in jeder Stadt, in jeder Region völlig verschieden. Deswegen müssen dafür ganz andere allgemeine Regeln gefunden werden“, sagte Schwarz-Schilling. Er wolle die Bedeutung der Kosovo-Frage nicht herunterspielen, doch seien die Schwierigkeiten in Bosnien-Herzegowina „viel weniger gelöst, weil sie weitaus komplexer sind als im Kosovo.“ In Bosnien-Herzegowina bezeichnen sich rund 48 Prozent der Bevölkerung als Bosniaken (bosnische Muslime), 37 Prozent als Serben und 14 Prozent als Kroaten.Schwarz-Schilling erklärte im Gespräch mit dieser Zeitung, er habe die EU aufgefordert, in Bosnien-Herzegowina nebst der EU-Polizeimission und der Friedenstruppe EUFOR auch politisch mehr Verantwortung zu übernehmen. Seine entsprechenden Vorschläge, bedauerte der 77-Jährige, seien allerdings insbesondere von der EU-Kommission, aber auch vom Rat, abgelehnt worden. „Europa will sich in Bosnien-Herzegowina von dem dispensieren, was sie im Kosovo für notwendig hält“, so Schwarz-Schillings Kritik. INFO-KASTENDer Hohe Repräsentant in Bosnien-Herzegowina
Ende Juni läuft das Mandat von Christian Schwarz-Schilling als fünfter Hoher Repräsentant der internationalen Staatengemeinschaft für Bosnien-Herzegowina aus. In dieser mit weitreichenden Vollmachten ausgestatteten Funktion war er seit Februar 2006 für die zivilen Aspekte der Umsetzung des Friedensabkommens von Dayton verantwortlich. Der Vertrag beendete den Bosnienkrieg (1992-1995), in dessen Verlauf zirka 100.000 Menschen ums Leben kamen. Gleichzeitig amtete Schwarz-Schilling als EU-Sonderbeauftragter für das Balkan-Land mit rund 4,5 Millionen Einwohnern. Nachfolger des 77-jährigen Deutschen wird der slowakische Diplomat Miroslav Lajcak.Der CDU-Politiker Christian Schwarz-Schilling, der ab 1982 der Regierung Kohl als Postminister angehörte, sparte schon zu Beginn des Konfliktes im ehemaligen Jugoslawien nicht mit Kritik an der Passivität der internationalen Gemeinschaft. Aus Protest „gegen die Unfähigkeit der europäischen Politik zu handeln und den Menschen in Bosnien und Herzegowina zu helfen“, trat er 1992 aus dem Kabinett zurück. Bevor er das Amt des Hohen Repräsentanten übernommen hatte, wirkte der studierte Sinologe über zehn Jahre lang als internationaler Streitschlichter für Bosnien und Herzegowina, was ihm bei allen Volksgruppen des Landes viel Respekt und Anerkennung eingebracht hatte.
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