Türkei plant Einmarsch in den Nordirak
Langsam rollt der Panzer den Berg hinunter. Die Soldaten halten Mobiltelefone aus der Luke des lärmenden Metallkollosses und fotografieren die Schafe des Dorfes Garur. Kemal Sahin schaut beunruhigt zu seinem Sohn Mehmet herüber. Der Zehnjährige pfeift routiniert den großen Hirtenhund zurück, der enttäuscht die Zähne fletscht und statt des Panzers die Lämmer der Herde verbellt. Nachdem in den vergangenen fünf Monaten 50 türkische Soldaten und Offiziere in Gefechten mit der PKK und durch Anschläge getötet worden sind und Bombenanschläge in Ankara und Istanbul Todesopfer forderten, verdichten sich die Anzeichen für einen baldigen Einmarsch der türkischen Armee in die Berge des Nachbarlandes Irak.
Ishakpasa Saray in Dogubeyazit am Ararat / Sabine Küper-Büsch, n-ost
Dort existiert seit der ersten Irak-Krise 1991 eine kurdische autonome Region mit einer kurdischen Regionalregierung. Im Hoheitsgebiet des Kurdenführers Mesut Barzani liegt das größte Lager der seit fast zwanzig Jahren gegen die Türkei operierenden PKK, die sich selbst als Freiheitsbewegung der Kurden bezeichnet, in der Türkei jedoch von einer wachsenden Anzahl selbst der Kurden als Synonym für Terror, Schrecken und Destruktion gilt.Der Schäfer Kemal Sahin lebt im Dorf Garur. Er schnaubt verächtlich, "von unserem Dorf ist nur noch ein Trümmerhaufen übrig." Erst seit zwei Jahren darf die kurdische Dorfbevölkerung wieder auf die Korhan Alm des Ararat. Sahins Dorf wurde bereits 1993 vom Militär zerstört, nachdem sich die Panzereinheit der Stadt Igdir am Fuß des Berges zweimal schwere Gefechte mit von den Bergen in das Dorf wandernde PKK-Militanten geliefert hatte. Alle Männer des Dorfes wurden als vermeintliche PKK-Kollaborateure verprügelt. "Was sollten wir tun?", fragt Kemal. "Nachts kamen die Leute der PKK und verlangten mit der Waffe in der Hand nach Brot." Kemal lebt mit seiner Familie jetzt in einem Zelt neben dem zerstörten Haus, seine Frau Leyla erwartet das neunte Kind. Keines geht zur Schule, denn auch die Dorfschule wurde zerstört, die Kinder zum Unterricht nach Igdir zu schicken ist zu teuer.
Oma Fatma zeigt ein breites, zahnloses Lächeln. Liebevoll streichelt sie die Euter der einzigen Milchkuh der Familie, denn ohne das kalziumreiche Getränk bekäme sie kaum genug Nahrung. In Milch eingeweichtes Brot ist morgens, mittags und abends ihre Hauptmahlzeit. Ein Teil ihres Gebisses verlor die Zweiundsiebzigjährige durch fortschreitende Karies, weil es in der Region üblich ist den Tee durch ein hinter den Schneidezähnen verkeiltes Stück Zucker zu schlürfen, der Rest fiel den Schlägen ihres verstorbenen Mannes Mustafa und einem Gewehrkolben zum Opfer, den ihr ein türkischer Unteroffizier bei der Räumung des Dorfes gegen den Unterkiefer stieß.
Kemal Sahins Miene verfinstert sich als in der Ferne ein Ford-Transit auftaucht. Alle zwei bis drei Wochen besucht Ahmet Aga Garur. Er ist das Oberhaupt des Stammes der Agrili. Früher kassierte er als Feudalherr von den Bauern Abgaben. Heute hält er ein Schwätzchen mit den wenigen Bauern, die noch Pferde besitzen. Offiziell organisiert der Feudalherr Touristens-Touren auf den Ararat. Doch jeder weiß, dass parallel Schmuggelgüter aus dem Iran in die Türkei transportiert werden. Nur so kann sich Ahmet Aga sein Schlösschen in der Kreisstadt Dogubeyazit finanzieren. Auf dem Berg wird er argwöhnisch beäugt, denn er verschafft den Bauern zwar Arbeit, steckt sich den Löwenanteil jedoch in die eigene Tasche. Ahmet Aga hat gute Beziehungen in den Iran und kennt auch die neuesten Nachrichten aus der Region.
Evakuierung von Dörfern im IranAn der Grenze zur Türkei werden bereits die ersten kurdischen Dörfer im Iran evakuiert. Teheran fürchtet, dass es zu Bombardierungen kommen kann, falls die etwa 2000 PKK-Kämpfer versuchen, vor dem türkischen Einmarsch aus dem Nordirak in den Iran zu fliehen. Ahmet Aga ist missmutig, denn Militäroperationen sind schlecht für den illegalen Grenzverkehr. In Garur fürchten die Dörfler ein Aufflammen der Kämpfe der 90er Jahre, die erst mit der Festnahme von PKK-Führer Abdullah Öcalan im Februar 1999 beendet wurden, als die PKK einen einseitigen Waffenstillstand verkündete. Der auf der Insel Imrali eine lebenslängliche Haft verbüßende Öcalan predigte zunächst Frieden. Doch die alten autoritären Spuren der mit stalinistischen Methoden geführten "Arbeiterpartei Kurdistans" (PKK) manifestierten sich spätestens als Öcalan vor drei Jahren über seine Anwälte in den pro-kurdischen Medien verkünden ließ. "Leyla" solle sich nicht erdreisten, als Rivalin neben ihm als Führer der Kurden in der Türkei aufzutreten. Leyla Zana verbüßte als ehemalige Abgeordnete der verbotenen prokurdischen "Demokratie-Partei" (DEP) eine zehnjährige Haftstrafe wegen Landesverrates und Mitgliedschaft in der PKK.
Die 2004 aus der Haft entlassene Zana hatte gehofft, als Vermittlerfigur zwischen Kurden und Türken Nachkriegspolitik betreiben zu könne, fügte sich aber der Weisung von oben und engagiert sich seitdem brav in der "Partei für eine demokratische Gesellschaft" (DTP), deren fehlende Distanzierung von der PKK den Fehlern der Vorgängerparteien folgt. Die Kurdenfrage wird mittlerweile an die Amnestie der PKK in den Bergen geknüpft, eine Forderung die die Türkei bereits mehrfach rigoros abgelehnt hat.
Die Dorfbewohner von Garur sind über die Entwicklungen nicht glücklich. Kemal Sahin hofft, dass wieder mehr Touristen auf die Alm kommen, um den Berg zu besteigen und den prächtigen Ishakpasa Saray in der Nähe von Dogubeyazit zu besuchen. Doch wenn weiter Sprengsätze in den Metropolen und Tourismusgebieten explodieren, wie die PKK angekündigt hat, wird wohl der Ararat der letzte Ort sein an den Erholungssuchende freiwillig reisen werden.
Ein weiterer Panzer rollt am Dorf vorbei, junge Soldaten winken. Kemals Frau Leyla schaut ihnen voller Sorge nach, denn ihr ältester Sohn muss im Herbst ebenfalls zum Militär. Ihm könnte ein sinnloser Krieg ohne Gewinner drohen.