Die Vernichtung von Lidice
Vor 65 Jahren übte die SS nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich in Tschechien grausame Rache
Prag (n-ost) - Die Vorgeschichte der Tragödie von Lidice beginnt am 27. Mai 1942: Damals verübten die beiden Fallschirmjäger Josef Gabčík und Jan Kubiš im Prager Stadtteil Libeň mit einer Granante ein Attentat auf den Wagen von Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes und stellvertretender Reichsprotektor im Protektorat Böhmen und Mähren. Die beiden Tschechen waren von England aus für das Attentat eingeflogen worden. SS-Mann Heydrich, der häufig als Henker von Prag bezeichnet wurde, starb einige Tage später. Nach Heydrichs Tod am 4. Juni 1942 war die tschechische Bevölkerung brutalen Vergeltungsmaßnahmen ausgesetzt. Diese Zeit wurde später von den Tschechen als 'Heydrichiade' bezeichnet. Ihr fielen Tausende zum Opfer. Zum Fanal wurde die Zerstörung des Dorfes Lidice am 10. Juni 1942.
Der Prager Historiker Vojtěch Šustek hat die Gräuel der SS erforscht. "Sofort nach dem Attentat wurde Prag von der Polizei abgeriegelt", berichtet er. "Es wurden große Razzien in Prag und anderen Orten durchgeführt. Am 28. Mai wurde im ganzen Protektoratsgebiet das Standrecht verhängt und es wurden die Namen der ersten hingerichteten Familien bekannt gegeben." Nach Informationen des Historikers wurden über 5000 Gemeinden im ganzen Land durchsucht und der neue Straftatbestand "Gutheißen des Attentats" eingeführt. "Dadurch konnte die Gestapo im Grunde genommen jeden erschießen lassen."
Von Lautsprecherwagen und im Radio wurden damals die Namen der Hingerichteten bekannt gegeben, zur Einschüchterung der Bevölkerung und zur Demonstration der Stärke der NS-Besatzer. Die Bevölkerung wurde von den tschechischen Politikern der Protektoratsregierung übers Radio und durch die Presse aufgefordert, die Heydrich-Attentäter auszuliefern. 20 Millionen Kronen wurden als Belohnung für die Ergreifung der Täter ausgesetzt.
Die Gestapo wusste anhand der gefundenen Maschinenpistole und Handgranate, dass es sich bei den Attentätern um Fallschirmspringer aus England handelte. Deshalb beschuldigte die Propaganda sofort die tschechische Exilregierung in London. Die Hinrichtungen, die jeden Tag im Protektorat durchgeführt wurden, wurden ihr angelastet, weil sie die Attentäter geschickt hatte. Der tschechische Exil-Präsident Edvard Benes wurde als Mörder des tschechischen Volkes dargestellt.
Polizei und Gestapo in Prag gerieten unter Druck als die Suche nach den Attentätern erfolglos blieb. Am 9. Juni war Heydrichs Beerdigung in Berlin. Die Lage war angespannt. Der massive Terror, den die Nazis nach dem Attentat entfaltet hatten, hatte noch keine Hinweise auf die Attentäter gebracht. Die Gestapo in Prag wurde kritisiert, dass sie noch nicht die gewünschten Ergebnisse geliefert hatte.
Ein Zufall brachte die Gestapo dazu, das Dorf Lidice, 20 Kilometer nordwestlich von Prag bei Kladno, ins Visier zu nehmen, wie der Historiker Šustek erklärt: "Am 8. Juni 1942 erhielt Anna Marusčaková, eine Arbeiterin in einer Batteriefabrik in Slaný einen Brief. Diesen öffnete zufälligerweise der Fabrikbesitzer. Er las den Brief, der folgenden Inhalt hatte: 'Teure Anna, ich lebe und bin gesund. Ich habe in dieser Nacht irgendwo in dem Dörfchen Čabarna geschlafen. Sehen wir uns noch einmal? Danach werden wird uns nicht mehr wieder sehen'."
Der tschechische Fabrikbesitzer hatte den Verdacht, dass der Brief etwas mit dem Attentat zu tun haben könnte und wandte sich an die Gendarmerie und die Gestapo in Kladno, so Šustek weiter. "Wie sich herausstellte, war der Absender des Briefes ein gewisser Václav Řiha, ein Arbeiter, der in Kladno arbeitete und verheiratet war. Er hatte eine Liebesaffäre mit Anna Marusčaková und wollte diese irgendwie elegant beenden. Mit dem Attentat hatte er nichts zu tun."
Als die Gestapo Anna verhörte, habe sie gesagt, dass in dem Brief noch etwas gestanden habe: "Es grüßen dich die Eltern von Pepik Horak aus Lidice." Josef Horak aus Lidice war Soldat in der tschechoslowakischen Auslandsarmee, wie Sustek erläutert. Das führte die Gestapo nach Lidice.
Die Gestapo führte Hausdurchsuchungen in Lidice durch, konnte aber keine heiße Spur zu den Attentätern finden. Aber es gab einen Vorwand und die Gestapo brauchte Ergebnisse. Am 9. Juni wurde Heydrichs Staatssekretär Karl Hermann Frank, der gerade in Berlin weilte, informiert. Dieser erteilte, wahrscheinlich in Absprache mit Himmler und Hitler, den Befehl zur Zerstörung Lidices. Die Nazis hatten gar nicht versucht, die Vernichtung von Lidice zu verheimlichen. Ganz im Gegenteil. Der deutsche Rundfunk im Protektorat meldete am 10. Juni 1942:
"Achtung, Achtung. Amtlich wird bekannt gegeben: Im Zuge der Fahndungen nach den Mördern des SS-Obergruppenführers Heydrich wurden einwandfreie Hinweise dafür gefunden, dass die Bevölkerung der Ortschaft Liditz bei Kladno dem in Frage kommenden Täterkreis Unterstützung und Hilfe leistete. Die betreffenden Beweismittel wurden trotz Befragung ohne Mithilfe der Ortseinwohner erbracht. Die damit bekundete Einstellung zum Attentat wird noch durch weitere reichsfeindliche Handlungen unterstrichen, wie Funde von staatsfeindlichen Druckschriften, Waffen- und Munitionslagern eines illegalen Senders sowie bewirtschafteter Waren im größten Ausmaße, und durch die Tatsache, dass Ortseinwohner sich im aktiven Dienste des Feindes im Ausland befinden. Nachdem die Einwohner dieses Dorfes durch ihre Tätigkeit und durch die Unterstützung der Mörder von SS-Obergruppenführer Heydrich gegen die erlassenen Gesetze schärfstens verstoßen haben, sind die männlichen Erwachsenen erschossen, die Frauen in ein Konzentrationslager überführt und die Kinder einer geeigneten Erziehung zugeführt worden. Die Gebäude des Ortes sind dem Erdboden gleichgemacht und der Name der Gemeinde ist ausgelöscht worden. Soweit dieses Bekanntmachung."
Das Dorf Lidice zählte 102 Häuser mit 503 Einwohnern. Am Abend des 9. Juni umstellten Angehörige der Gestapo, des SD und der Schutzpolizei unter dem Kommando von SS-Offizieren mit Unterstützung der tschechischen Gendarmerie Lidice und blockierten alle Zufahrtswege. In der folgenden Nacht wurden die Dorfbewohner zusammengetrieben. Am 10. Juni wurde Lidice dem Erdboden gleichgemacht, obwohl es keine Verbindung zwischen den Attentätern und Lidice gab. Alle 184 männlichen Einwohner über 16 Jahre wurden erschossen, die 198 Frauen ins Konzentrationslager Ravensbrück gebracht, die 98 Kinder nach Lodz deportiert. 82 Kinder wurden in den Gaskammern von Chelmo / Kulmhof ermordet. 12 Kinder überlebten, weil sie deutschen Familien zur Germanisierung bzw. zur 'Wiedereindeutschung' wie es hieß, übergeben worden waren. Sie wurden nach dem Krieg in Bayern wieder entdeckt. Zwei Wochen nach der Zerstörung von Lidice erlitt der kleine Ort Ležáky bei Pardubice das gleiche Schicksal. Dort starben 33 Menschen.
Das Schicksal von Lidice wurde innerhalb kurzer Zeit in der ganzen Welt bekannt. Lidice wurde zu einem Symbol für den NS-Terror. Mehrere Gemeinden nahmen aus Solidarität den Namen Lidice an. Es gibt bis heute Lidice in Brasilien, Mexiko und Panama.
Das Attentat auf Heydrich hatte innerhalb des tschechischen Widerstandes nicht nur Befürworter. Gerade einheimische Widerstandskämpfer fürchteten die Folgen, die eine solche Tat haben könnte. Zum Beispiel brachte Ladislav Vaněk (Deckname Jindra), Leiter einer heimischen Widerstandsgruppe, im Februar 1942 dem Vorgesetzten der beiden Attentäter, Alfred Bartoš, seine Bedenken vor. Dieser schickte eine Depesche an den militärischen Geheimdienst der tschechoslowakischen Exilregierung in London und empfahl, den Befehl zur Durchführung des Attentats zurückzunehmen. Der Leiter der Geheimdienstabteilung, František Moravec, lehnte das ab, weil er überzeugt war, das Attentat werde den politischen Interessen der Tschechoslowakei dienen.
Es gibt auch heute in Tschechien Stimmen, die bei der Bewertung des Attentats zurückhaltend sind und auf die fast 5.000 Menschen verweisen, die durch die Vergeltungsmaßnahmen nach dem Attentat ihr Leben verloren. Historiker Šustek meint, das Attentat sei trotz der vielen Opfer sinnvoll gewesen: "Die Zerstörung von Lidice löste in der tschechischen Bevölkerung natürlich große Bestürzung aus. Dadurch dass die Nazis ihre Aktion in Lidice mit großem Pomp in der Welt verkündeten, kam es aber zu großen Sympathiebekundungen in der Öffentlichkeit für die Tschechen und Slowaken." Diese Sympathien hätten die englische und französische Regierung dazu gezwungen, das Münchner Abkommen von 1938 und die damit verbundene Angliederung der Sudetengebiete an Deutschland zu widerrufen. "Man kann sagen, dass die Liquidierung Heydrichs und die mehreren Tausend Toten dazu führten, dass seit dem 5. August 1942 alle Mitglieder der antideutschen Koalition die Wiederherstellung der Tschechoslowakei in ihren Grenzen vor dem Münchner Abkommen als eines ihrer Kriegsziele betrachteten", folgert Šustek. "Ich meine, dass gerade deshalb die Aktion gegen Heydrich sehr bedeutend und nützlich war."
In der kommunistischen Zeit wurde das Attentat als egoistischer Akt individuellen Terrors bezeichnet, der zu vielen unnötigen Opfern geführt habe. Die Attentäter wurden von den Kommunisten nicht geehrt, weil sie dem nicht-kommunistischen, westlichen Widerstand angehört hatten.
In der Krypta der Cyrill und Methodius-Kirche auf der Resslova-Straße in Prag wurde erst nach der Samtenen Revolution 1989 ein kleines Museum eingerichtet, das die Geschichte des Attentats und die letzten Stunden des Lebens der Attentäter in der Krypta dokumentiert. Im Rathaus im Prager Bezirk Liben wird zurzeit diskutiert, ob den Fallschirmspringern 65 Jahre nach dem Attentat nicht doch ein Denkmal gewidmet werden sollte. Unklar ist aber, wo ein solches Denkmal stehen könnte. Die Haarnadelkurve, in der das Attentat stattgefunden hat, gibt es heute nämlich nicht mehr. Der Straßenverlauf wurde in den 50er Jahren geändert.
Lidice wurde nach dem Krieg 300 Meter vom alten Ort entfernt neu aufgebaut. An der Stelle des früheren Lidice befinden sich heute eine Gedenkstätte und ein Museum. Am 10. Juni wird in Lidice der 65. Jahrestag der Zerstörung begangen.
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Autors:
Andreas Wiedemann