Oberschlesien will Metropole werden
Mit „Silesia“ hoffen 17 Städte der Industrieregion auf riesigen EntwicklungssprungKatowice (n-ost) - Ganz Polen jubelte am Tag der Vergabe der Fußball-Europameisterschaft 2012 an Polen und die Ukraine. Ganz Polen? Nein, denn im oberschlesischen Revier mischte sich in den Freudentaumel bitterer Beigeschmack. Chorzów, die einzige Stadt Oberschlesiens, die sich beim nationalen Komitee um die Ausrichtung von Spielen beworben hatte, wurde lediglich zur Reserve degradiert – mit eher mäßigen Chancen, Ausrichterstadt zu werden. „Wir hätten gemeinsam als eine über zwei Millionen Einwohner zählende Agglomeration auftreten sollen”, kommentierte tags darauf die einflussreiche Gazeta Wyborcza.Zwar wird die endgültige Entscheidung über die Spiele-Vergabe und damit auch über Millioneninvestitionen erst später gefällt, doch die Einschätzung bringt die Sache durchaus auf den Punkt. Denn die Region, die im Zentrum der Wojewodschaft Śląslie liegt, hat Etliches zu bieten. Neben dem schon existierenden Stadion „Śląski“ – dem bislang größten und modernsten in Polen, das allerdings einer Renovierung und Erweiterung bedarf – eine relativ gut ausgebaute Infrastruktur, große Hoteldichte und auch touristische Attraktionen in nächster Nähe, die sich sehen lassen können. Das Haushaltsbudget der am engeren Zusammengehen interessierten 17 Städte beträgt insgesamt rund vier Milliarden Euro, die Bevölkerungsdichte weist mit 2000 Einwohnern pro Quadratkilometer beinahe typisch großstädtische Ausmaße auf. Wie eine Großstadt präsentiert sich „Silesia“ dem Flugzeugreisenden aus der Vogelperspektive zwar schon heute, doch im Wettbewerb um Investoren, Fördergelder und Touristen stehen die oberschlesischen Städte gegen Breslau, Posen oder Krakau meist auf verlorenem Posten.
Der Internationale Flughafen Katowice-Pyrzowice
Jan Opielka
Die geplante Agglomeration „Silesia“ könnte den entscheidenden Wettbewerbsvorteil bringen. Sie soll ein Zweckverband sein, der bindende Entscheidungen treffen könnte. Der internationale Name soll vor allem nach außen hin für mehr Profil sorgen. Vertreter der Städte säßen, so bisherige Entwurfskizzen, in einer Art Agglomerationsparlament, und ein Super-Präsident könnte den Vorsitz übernehmen. Ob dieser von den Einwohnern direkt gewählt oder aber von den Stadtvertretern bestimmt wird, darüber gehen die Meinungen noch auseinander. Ähnliche Strukturen, wie sie für Silesia angedacht sind, weist im Übrigen auch der Regionalverband Ruhr auf, dem fünfzehn kreisfreie Städte und Kreise des Ruhrgebiets angehören – mit 5,3 Millionen Einwohnern bilden sie die größte Wirtschaftsregion in Europa.
Touristische PerlenDas polnische Gebiet von der Fläche Londons ist indes nicht nur infrastrukturell und wirtschaftlich stark verflochten. Es ist auch reich an historischen Stätten, zahlreiche Routen führen bildungsbeflissenen Reisenden kulturelle Schätze der Region vor Augen, brachliegende Industriegebiete werden touristisch aufbereitet. Die Krux liegt bislang aber darin, dass kaum jemand darüber Bescheid weiß; nicht im Ausland, und auch in Polen nicht. Die Industrieregion wird weithin als solche wahrgenommen, selbst von einem großen Teil ihrer Einwohner. „Drei Millionen Polen besuchen jährlich die Wojewodschaft Śląskie“, sagt Adam Hajduga von der Wojewodschaftsverwaltung in Katowice. Allerdings sind dabei die Beskiden, eine Bergkette im Süden, die Hauptattraktion. Von den jährlich 600.000 ausländischen Besuchern des Śląskie sind wiederum die Hälfte Deutsche – zumeist Spätaussiedler, die ihre Familien besuchen, meist mit wenig touristischen Ambitionen. Und obwohl die Industrieregion längst nicht mehr so grau ist, wie zur Zeit der kommunistischen Schlote, so ist eben diese Wahrnehmung geblieben. Dass die neu entstandenen und neu entstehenden Industriebetriebe – etwa in der großflächigen Sonderwirtschaftszone Katowice – nicht die Dreckschleudern von einst sind, wird allzu oft übersehen.Doch noch eine andere Seite der Region scheint zukunftsträchtig – und einer stärkeren Integration wert: Denn mit ihren sieben Universitäten und etlichen kleineren, auch privaten Hochschulen ist sie eines der Bildungszentren Polens. Gut 11 Prozent aller polnischen Hochschüler gehen hier ihren Studien nach, knapp 12 Prozent der Forschungsinstitute Polens sind im dicht besiedelten Oberschlesien vereinigt. Überproportional viele Hochqualifizierte leben und arbeiten hier, vor allem in technischen Berufen. Auch der Flughafen Katowice-Pyrzowice trägt das seine zur Entwicklung der Region bei. Erst vor Kurzem wurde ein Terminal neu gebaut, die Passagierzahlen stiegen daraufhin von 200.000 in 2002 auf 1,5 Millionen in 2006 – und ein neuer Terminal ist bereits in konkreter Planung.
Eine vielversprechende Grundlage, so scheint es. Wohl auch daher sprechen viele polnische Medien bereits von einer „Stadt Silesia“ – doch soweit soll und wird es auf absehbare Zeit nicht kommen. „Wir werden niemandem etwas aufzwingen. Die Städte werden ihre Autonomie nicht einbüßen“, versichert Krzysztof Mikuła, Abgeordneter der regierenden PiS (Recht und Gerechtigkeit) im Sejm und einer der institutionellen Ideengeber des Projekts. Die neue Verwaltungseinheit soll sich vielmehr um innere Aufgaben wie den gesamten Nahverkehr, Straßenverwaltung, Raumplanung und eine gemeinsame Entwicklungsstrategie kümmern – sich aber auch wichtiger „äußerer“ Herausforderungen annehmen: vor allem einem gemeinsamen Marketing sowie der Gewinnung von EU-Fördergeldern.All diese Befugnisse müssen jedoch noch rechtlich festgezurrt werden – im nationalen Parlament, dem Sejm. Der Anfang 2007 von Vertretern von 14 Städten der Agglomeration unterzeichnete „Oberschlesische Metropolen-Verbund“ (GZM) ist dabei laut Zygmunt Frankiewicz, Präsident von Gliwice, notwendiger Zwischenschritt auf dem Weg zur größeren Integration: „Die jetzige Rechtslage ist nicht ausreichend, es existieren viele Einschränkungen, die die Lösung von Problemen im Rahmen des kommunalen Verbundes erschweren.“ Dennoch könnten auf dieser Grundlage, so das Oberhaupt der 200.000 Einwohner-Stadt, bereits Lösungen für die Zukunft erarbeitet werden.Einigen kann die Mega-Verschmelzung gar nicht schnell genug gehen. So etwa Sosnowiec, mit knapp 230.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt der geplanten Agglomeration – und historisch gar nicht schlesisches Gebiet, sondern Zagłębie Dąbrowskie. Mitglieder des Stadtrates haben eine eigene Agglomeration vorgeschlagen, auch vor dem Hintergrund der historischen Identität und bestehender Animositäten mit den schlesischen Nachbarn. Doch Sosnowiecs Präsident Kazimierz Górski hat die Zeichen der Zeit erkannt – und sieht seine Stadt ganz und gar der Nachbarregion zugehörig: „Was ist schon Sosnowiec neben Posen und Breslau? Nicht viel. Doch gemeinsam sind wir eine Kraft, die schwer zu unterschätzen ist.“
Wer zahlt die Rechnung? Krzysztof Mikuła, der Sejm-Abgeordnete, entgegnet selbstbewusst der Kritik, dass kleinere Städte der Region nicht in „Silesia“ integriert würden: „Metropolen sind Zugpferde, die die Entwicklung einer ganzen Region verursachen. Je stärker die Metropole, umso besser lebt es sich auch in benachbarten Städten. Wir werden uns ja nicht mit einer Mauer umgeben.” Die Mehrheit ihrer Aufgaben soll die neue Agglomeration von den Gemeinden, der Wojewodschaft und den Kreisen übernehmen, meint Mikuła. Diese müssten für die neue Verwaltungseinheit auch Geld hergeben – neben weiteren Mitteln aus dem nationalen Budget und europäischen Fördergeldern.Solche Fördergelder könnten möglicherweise auch für das Stadion in Chorzów fließen. Doch selbst, wenn man mit dem Euro-Anliegen scheitert: Es könnte sich erweisen, dass die verpasste Fußball-Chance der entscheidende Impuls für die Entstehung von „Silesia“ sein wird. Katarzyna Zalewska, Einwohnerin von Sosnowiec, meint: „Schon auf einfachen Karten von Oberschlesien sieht man, dass das Zentrum der Wojewodschaft eine verschmolzene Stadt ist. Vielleicht wird es für die Generation von meinen Kindern auch in den Köpfen verschmelzen.“
Infokasten:19 Städte – darunter Katowice (320.000 Einwohner), Sosnowiec (229.000) Gliwice (192.000) und Zabrze (190.000) – wollen den Metropolen-Verband bilden.Innere und äußere Aufgaben soll die neue Verwaltungseinheit übernehmen: Verwaltung von Straßen und Nahverkehr, Raumplanung, gemeinsame Entwicklungsstrategie; Marketing und Werben um Investoren, Fördergelder, neue Einwohner und Touristen. Über 2,2 Millionen Einwohner leben heute in dem Gebiet, das von der Fläche her London entspricht und zweieinhalb Mal so groß wie Warschau ist. Zum wichtigsten Verkehrsknotenpunkt Polens entwickelt sich die Region vor allem durch den Bau der zwei bislang einzigen Autobahnen Polens: der A 4 (Berlin-Breslau-Kattowitz-Krakow-Ukraine), die bereits weitgehend fertig gestellt ist, und der A 1 (von Danzig-Lodz-Kattowitz über die Slowakei-Ungarn bis Griechenland). Schon jetzt sind das Eisenbahn- und das Straßennetz im nationalen Vergleich mit führend.Anfang 2009 könnte es mit „Silesia“ soweit sein – vorausgesetzt, das entsprechende Gesetz wird noch in diesem, spätestens im nächsten Jahr im Sejm in Warschau verabschiedet. *****Ende****** --------------------------------------------------------------------------n-ost ist Medienpartner von The Tall Ships´ Races, 04.-07. August 2007 in Stettin: Tall Ships' Races Stettin--------------------------------------------------------------------------Wenn Sie einen Artikel übernehmen oder neu in den n-ost-Verteiler aufgenommen werden möchten, genügt eine kurze E-Mail an n-ost@n-ost.org.Der Artikel wird sofort für Sie reserviert und für andere Medien aus Ihrem Verbreitungsgebiet gesperrt. Im Übrigen verweisen wir auf unsere Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) unter www.n-ost.org. Das Honorar überweisen Sie bitte mit Stichwortangabe des Artikelthemas an die individuelle Kontonummer des Autors:Jan Opielka