Polen

Die Krabbe als Heilige

(...)

Ach, ich verstehe, deine Mutter hat dich sicher hier vor der Kirche abgelegt und wollte damit ihre Probleme lösen. Was ist das bloß für eine Frau, na ich weiß nicht, die hat sich ihre Moral sicher im Ausverkauf geholt und dazu aus China bestimmt. Warum hasst die ihr Kind so? Warum ist sie kein Krug, der ohne Henkel nach Wasser geht, warum findet sie sich nicht mit dem ab, Was Sein Muss? Woher so viel Widerstand in ihr, und wozu. Schließlich weiß doch jeder, warum gerade sie ein debiles Kind bekommen hat. Schuld und Sühne. Und wer es nicht gelesen hat, kann die Zusammenfassung überfliegen.
Über der Krabbe, die breitlings mitten auf der Straße lag, bildete sich eine immer größere Menschentraube. Die Gaffer berührten mit leichter Faszination den Körper des Mädchens und sahen sich ungläubig an. Und weil es dunkel war, fand das Getatsche lediglich im Licht der Straßenlaterne statt. Wie ein geheimnisvolles Ritual, die Begegnung mit etwas Namenlosem. Das lebt also, das hat Hautreste, die sich wie unsere Haut anfassen. Was wohl innen sein wird? Ob in seinen Adern das gleiche Blut fließt wie in unseren? Vielleicht hat es eine andere Farbe, vielleicht ist es kochend heiß oder eiskalt? Faszinierend, wie in einen so kleinen Oberkörper sowohl Herz als auch Lunge reinpassen. Na ja, irgendwo muss das schließlich hin.


Warum hast du so einen großen Kopf?
Damit alles rein passt, was rein gehört.
Und warum hast du solche Glubschaugen?
Weil man mir in die Augäpfel ein Kaleidoskop eingebaut hat, damit ich schöne Bilder projizieren kann.
Und warum hast du so ein entsetzlich großes Maul?
Damit ich euch besser fressen und dann rülpsen kann.
Und Arme und Beine hast du seit deiner Geburt keine oder hat sie dir jemand gestohlen? Und du sprichst so komisch, sind deine Stimmbänder gerissen? Moment mal, du bist eine Heilige und sollst für die Sünden deiner Familie bis zum Ende deiner Tage bezahlen?


Hat ihre Mutter sie nicht in die Kirche gebracht?, fragte die Nachbarin. Ach wo, haben Sie das nicht gehört, dass ihr die Krabbe weggenommen und mit Gewalt hierher gebracht wurde? Sie soll unser bestes Exportprodukt werden, gefördert von den Rücklagen der EU. Zum Vatikan auf Pilgerfahrt soll sie gleich los und um Massenvergebung bitten für unsere städtischen Sünden und zwar in erster Linie.
Das Mädchen soll die zukünftige Botschafterin von Gołąbki werden, unser Gesicht. Sie hat ein charakteristisches Aussehen, so dass wir wiedererkennbar sein werden.
Die Leute überboten sich mit Neuigkeiten und immer unwahrscheinlicheren Plänen für die Krüppelin ohne alle Viere. Angeblich jault ihre Mutter seit mehreren Stunden im Garten und lässt die Leute nicht schlafen. Zweimal haben sie die Hunde auf sie gehetzt, aber trotz schlimmer Bisse – Marek ist sogar mit seinem Bullterrier gekommen – hat sie sich nicht beruhigt und heult weiter. Was ist das für ein Weib, also wirklich. Kein bisschen Stolz, keine Benimmse. Ist ja auch kein Wunder, wenn die Familie Volksdeutsche und Juden waren.


Das Gör muss in die Kirche gesteckt und die Tür verriegelt werden, damit es keine Mücke macht. Wir können nicht zulassen, dass sich das in alle Richtungen ausbreitet und eine Schleimspur wie eine Schnecke hinter sich zieht.


Mach, dass du zurückkommst, du Krabbe. Einer muss für Großmutter und Mutter Buße tun. Wir wollen, dass du über dem Altar hängst, wir wollen etwas zu sehen haben. Ab zurück in die Kirche! Wir verlangen Ergriffenheit und Schock von der Verkrüppelung!


Doch das Mädchen wollte fliehen und überflüssige Begutachtung zur Bestätigung ihrer Heiligkeit umgehen. Ein Teil der Leute war bereits vor ihr niedergekniet und hatte Lieder über die Erlösung durch Leiden angestimmt. Durch physisches Leiden natürlich, das ist besonders wertvoll. Man denke allein an die heilige Juliane. Oder Katerina de Pazzi, die levitieren konnte und mystische Visionen hatte, vergleichbar mit dem Zustand der Hyperthermie. Sie hob ab und redete dann mit Jesus. Das alles wurde mit einer erotischen Soße übergossen, zweideutig, wie das oft bei Frauen der Fall ist, die von Glaube durchdrungen sind und darüber den Verstand verlieren. Der heilige Bräutigam beschenkte Katerina mit mystischen Gewändern und Juwelen, und die spazierte darin nackt durchs Kloster. Man kann sich denken, dass das bei der Oberschwester nicht auf Begeisterung gestoßen ist. Alle wandten sich von den durchgeknallten Mädels ab, und die wurden nur noch verbissener, machten noch mehr den Arc de cercle, den Gläubigen zum Trotze. Die Krabbe ist genauso in sich versunken, so unversöhnlich, kurz vor der Extase. Wie wir sie beneiden.
Manche der Versammelten versuchten gar, sich die Beine oder zumindest die Finger abzureißen, nach dem Bilde der, die zur Heiligen von Gołąbki werden sollte.
Leute, Erbaaaarmen, grunzte der Rumpf und versuchte, der immer aufgewühlteren Menschenmasse zu entkommen. Keiner verstand, was die Krabbe herauszuschreien versuchte, sie beobachteten, wie sie sich ungeschickt über die Straße zum Bürgersteig wälzte.


Augenblick mal, Desertation lassen wir hier nicht zu. Wir haben ja nicht die verräterische Familie toleriert, um nun nichts davon zu haben. Wir wollen wenigstens zur Sonntagsmesse etwas sehen und den Touristen, die nicht kommen, etwas zu zeigen haben. Die Verachtung unserer lokalen Gemeinschaft gegenüber muss auch Konsequenzen haben.
Jemand nahm einen Stock vom Rasen und näherte sich der Krabbe. Sie war innerlich störrisch, es war zu sehen, dass sie ihre letzten Kräfte zusammennahm, ihre Augen glänzten und die verbrannte Haut schlotterte in der frischen Brise. Sie wehrte sich nicht, sie gab nicht einmal einen Laut von sich, war leichenblass. In ihren weit aufgerissenen Augen loderte die düstere Flamme von Grauen und Tod. Schluss mit den abendlichen Kriegsfilmen, mit den Träumen von einem besseren Leben mit Gliedmaßen. Hilfe, Mama!
Sie levitierte wie alle ausgestoßenen Mystikerinnen. Die Krabbe hatte eine Vision, in der sich die Vergangenheit mit dem verflocht, was noch gar nicht gewesen war und nie kommen würde. Sie ertrug weitere Schläge mit immer mehr Inbrunst, denn sie wusste, dass sie nichts mehr retten würde und dass es keinen Sinn hatte, diese Szene zu verlängern.
Fesselt sie, sonst reißt sie sich los und flieht, riet die Nachbarin. Auf der Straße stand ihr Auto bereit, nur der Motor musste angelassen werden. Sie warfen die wie einen Hammel geknebelte Krabbe auf den Hintersitz und fuhren los in höllischem Durcheinander; höhnische Spottnamen, Gelächter und Beschimpfungen fielen auf sie herab wie tödlicher Hagel.
Was das für Spottnamen waren? Ach, ganz menschliche, normale eben. Behinderte Nutte, jüdischer Rumpf und Parasitenschlampe, gemästet von der Sozialhilfe außerdem. Die Großmutter hatte Polen, die Familie Gołąbki verraten. Diebin, hast fremdes Gut gestohlen, Warschauer Gut, nicht unsers.
Sonderling.


Nach einer Weile wurde der Umzug langsamer. Die Nachbarin hörte auf, wie besessen auf die Hupe zu drücken, und die Leute wurden leiser. Der mutigste unter ihnen, der Inhaber des Spätverkaufs, sagte „vielleicht sollten wir sie zurückbringen, sie nackt ausziehen und in der Vorhalle mit Ruten durchprügeln“. Den Weibern kam das wie gerufen, erregt riefen sie „wir wollen Blut sehen, packt sie“. Zwei Kerle, die gerade vorbeiliefen, sagten zueinander „gut, dass wir nicht in die Disco nach Ursus gefahren sind, sonst hätten wir dieses Spektakel verpasst“. Skalpieren. Verbrennen. Umbringen.
Die Spirale des Wahnsinns drehte sich von Minute zu Minute schneller, niemand wusste mehr genau, was er von dem armen Kinde wollte, das sich nicht wehren konnte und seinen Kopf, sein einziges vollständiges Körperteil, mit seinen Schultern zu schützen suchte.


Plötzlich trat der Priester vor das Pfarrhaus und verstellte mit seinem Körper die Kirchentür. Oh nein, das lasse ich nicht zu. Ihr tragt mir hier noch den ganzen Modder rein und verspritzt Blut im Gotteshaus. Wer soll das morgen sauber machen?
Ich vielleicht? Eher nicht.
Und dann steht nachher im Lokalteil, ich hätte an einer Lynch-Aktion teilgenommen, hat mir gerade noch gefehlt. Hinfort.


Die Leute trieben sich gegenseitig an. Der Himmel wurde immer düsterer, der Wind schlug in die Pappeln, deren Äste sich weit herabbogen. Staub- und Sandwolken wirbelten vom Wegesrand immer höher über den Köpfen auf und hüllten sie ein wie Dampf aus einem heißen Kessel. Von Zeit zu Zeit machte sich jemand Luft, spuckte auf die Scheibe und schrie: Du Schwein, du Schwachsinnige, Russenkind, Pestbeule. Auf die Gleise mit ihr, auf die Gleise. Diese Familie hat Schande über unser Städtchen gebracht, deshalb hat euch Gott mit dem Krüppel bestraft, und jetzt tragt euer Kreuz! Du wurdest geboren, also friss die Scham, schmeck den Gram.


Die Leute brüllten wie eine Armee, die sich mit lautem Schreien Mut machen wollte.
Die Krabbe dagegen, ins Auto eingesperrt, blutig geschlagen, in der zerrissenen Gewandung, in Ewigkeit geschändet, und zu schnell von einer Heiligen zum letzten Dreck befördert, lag da als hörte und fühlte sie nichts mehr, was um sie herum geschah, nur echte Tränen rannen in einem endlosen Rinnsal über ihr blau geschlagenes Gesicht. Sie wollte schreien, konnte es aber nicht. Sie wollte die Türen des Fiat Uno öffnen, aber sie hatte keine Hände. Zur Flucht fehlten ihr die Beine und bequeme Schuhe hatte sie auch gerade nicht griffbereit.


Endlich kam die groteske Demonstration der gesellschaftlichen Gerechtigkeit neben den Bahnsteigen zum Stehen. Sie zogen das Mädchen aus dem Wagen und warfen es wie einen aufgequollenen Kadaver auf die Gleise, die unter ihr beinahe aufstöhnten. Sie fiel auf den Rücken und bewegte sich nicht mehr. Sie spürte den Geruch nach Schmiere, stellte sich aber lieber tot, um die Menge nicht noch mehr in Rage zu bringen. Sie tat so, als sei sie nicht hier. Die Nachbarin sprang herbei, trat sie und brüllte: Wenn du in die Stadt zurückkehrst, hetzen wir die Hunde auf dich! Sie hob einen Stein vom Gleisbett auf und warf als erste. Für das Leid der Kinder, für den Krieg und den Warschauer Aufstand, für die Schande der Familie, da hast du, da hast du.
Für die Schande über Gołąbki warf die Nächste einen Stein.
Mögest du in Ewigkeit in der Hölle schmoren, möge dich die heilige Erde wieder ausspucken, mögest du verhungern und verdursten.
Die Worte schmerzten mehr als die harten Steine. Die Krabbe zog sich in sich zusammen und schloss die Augen, sah nur ihre eigenen inneren Bilder.
Der Himmel bedeckte sich, es begann, in dichten, dicken Tropfen zu regnen.
Was sollen wir hier herumstehen und die Aussätzige anstarren. Gehen wir nach Hause. Die Menge ging nach und nach auseinander, ruhig, in Gedanken versunken. Vielleicht mit einer gewissen Befriedigung und dem Gefühl, seine Pflicht getan zu haben.
Der Abschaum lag auf den Gleisen, voller Schmiere. Diesen Weg waren vierundvierzig die Leute nach Pruszków gezogen, und Leichen lagen auf den gleichen Steinen, auf den gleichen Gleisen und warteten auf weiß der Teufel was.
Steh auf, Mädchen, so lange das Leben schön ist. Roll dich von diesen Schienen, denn das ist nicht der rechte Ort, zu verschnaufen und in die romantischen Sterne zu starren. „Raus“ wie man so schön sagt, verschwinde.
Die verkrampfte, in Sackfetzen gewickelte Gestalt wurde nach und nach vom Lichtstrahl des herannahenden Zuges beleuchtet.


  

Aus dem Polnischen von Antje Ritter-Jasinska. Die Übersetzung wurde im Rahmen des Sample Translations ©POLAND Programms finanziert.

Die deutsche Übersetzung von Chutniks Roman "Weiberatlas für Warschau" erscheint im Herbst 2011 im Vliegen Verlag.


Weitere Artikel