Stadterkundung mit Fingerspitzengefühl
Der Blindenstadtplan der Stadt Posen soll Sehbehinderten die Tür ins aktive Leben öffnen
Posen (n-ost) - "Der Stadtplan öffnet den Weg ins Leben. Man kann sich selbstständig bewegen, Freunde besuchen, zur Arbeit fahren", lobt Wilkniewski eine Innovation, mit der die polnische Metropole Posen zu den Vorreitern in Europa zählt: einen Stadtplan für Blinde. Obwohl er den Plan schon gut kennt, studiert ihn der blinde Paweł Wilkniewski immer etwa eine Stunde lang. Erst dann geht er auf seiner gewünschten Route zielsicher dorthin, wo er ankommen möchte. Mit dem Finger tastet Wilkniewski die Hauptstraßen ab, die als dicke, erhabene Linien erkennbar sind. Dann fühlt er sich den Fluss Warthe entlang, der sich geriffelt durch die Stadt schlängelt, und schließlich erfasst er die Haltestellen der Straßenbahn, die als Punkte erkennbar werden. Bevor es losgeht beginnt Wilkniewski konzentriert zu rechnen, wie viele seiner immer gleichmäßig langen Schritte er benötigt, um von einem Punkt zum anderen zu kommen. In seiner Vorstellung entsteht dabei ein komplexes Bild.
Der Stadtplan für Blinde
Mariusz Forecki
Der Posener Stadtplan für Blinde besteht aus elf großformatigen Tafeln: einem zweiseitigen Zeichenverzeichnis und neun Seiten, die die ganze Stadt abbilden. Dem unwissenden Betrachter mag ein Blick auf die Legende keine große Hilfe sein. Es bedarf einiger Übung, aus dem System von Punkten einzelne Zeichen herauszulesen und sie dann zu Wörtern formen zu können. Die Braille-Schrift, 1820 vom selbst blinden Franzosen Louis Braille aus einer "Nachtschrift" des Militärs entwickelt, gilt heute als das Standard-Schriftsystem für Blinde. Jedem Buchstaben des Alphabets wird dabei eine Kombination aus Punkten zugeordnet, die auf dem Papier im Relief hervorgehoben sind. Es genügt dabei nicht nur zu wissen, welcher Buchstabe welchem Punktsystem entspricht - das "blinde" Erkennen der Wörter erfordert einiges an Fingerspitzengefühl, das der Sehende sich erst mühsam ertasten muss.
Doch alles kann die Blindenkarte der Stadt Posen nicht abdecken. Wo beispielsweise ein kleiner Fußweg abbiegt oder dass es jetzt an einer der Haltestellen Treppen zu einer Straßenunterführung gibt, dass kann Pawel nur vor Ort feststellen und dann in seinem Gedächtnis abspeichern. Wenn er an der Haltestelle eine nahende Straßenbahn hört, fragt er Passanten nach deren Nummer. Fast 100.000 sehbehinderte Menschen wohnen in ganz Polen - nur acht Prozent von ihnen arbeiten. Viele Erleichterungen im öffentlichen Leben.
"Herr Marek, es ist ganz einfach! Hier ist die Haltestelle, hier die Warthe - ich weiß schon alles", sagt der 5-jährige Piotrus im Vorort Owinska stolz zu seinem Lehrer Marek Jakubowski, der seit gut zwei Jahrzehnten im Zentrum für Sehbehinderte tätig ist. Jakubowski versetzt für seine "Brajlaki" - was man als "Braille-Kids" übersetzen kann - Berge. Er hatte nicht nur die Idee für einen Blinden-Atlas für ganz Polen und den Posener Blinden-Stadtplan. Er erfand auch eine sich auf dem Papier wölbende Tinte, die sich wie die Braille-Schrift ertasten lässt. Auch die Idee, mit einer synthetischen Computerstimme Hörbücher für Blinde aufzunehmen, geht auf Marek Jakubowski zurück.
Für die Herstellung des Blinden-Stadtplans konstruierte er einen speziellen Drucker. Bei der visuellen Umsetzung des Plans hat ihm Alina Talukder geholfen, die im Owińska-Zentrum räumliche Orientierung und ertastbares Zeichnen unterrichtet. Gerade die räumliche Orientierung und das Lesen der Zeichen sind die größten Herausforderungen für Blinde. Der kleine Piotruś hat die Karte gleich verstanden. Ein anderer 18-jähriger Oberschüler sitzt dagegen bereits seit Stunden daran und zerbricht sich den Kopf.
"Meine Frau", erzählt Pawel Wilkniewski, "musste nach unserem Umzug in einen neuen Stadtteil vor 15 Jahren immer erst in den alten fahren, um von da aus ihr eigentliches Ziel zu erreichen." Sie habe sich nur von ihrem alten Umfeld aus orientieren können, denn das kannte sie noch von den Jahren, in denen sie sehen konnte. Beide Wilkniewskis haben früher gesehen. Das bedeutet, dass sie die Welt der Blinden mit Gesehenem von damals vergleichen, was oft nicht leicht fällt. Nur von Geburt an blinden Kindern fällt es leicht, sich in der Welt aus Zeichen, Zahlen, Geräuschen und gar Gerüchen zurechtzufinden.
"Deswegen sage ich immer, dass man den Stadtplan studieren muss", erzählt Marek Jakubowski lächelnd vor einem guten Dutzend erwachsener Schützlinge, die sich wegen des Stadtplans im Posener Blindenzentrum versammelt haben. Am Tisch sitzt Pawel Wilkniewski und erläutert die praktische Anwendung der Karte. Doch die Menschen im Publikum hören beiden kaum zu - erst von Zuhause aus werden sie dann einzeln anrufen und konkret nachfragen. Wilkniewski, der bei der Entwicklung des Stadtplans wichtige Tipps gab, kann das nur zu gut verstehen. Wie jeder den Plan "sieht", sei davon abhängig, wann er sein Augenlicht verloren hat.
Meist sind Blindenkarten nur für einen kleinen, begrenzten Bereich, einen Gebäudeplan oder einen Uni-Campus, verfügbar. Wegen der Größe der Braille-Zeichen ist die Menge der Details mit denen normaler Pläne nicht vergleichbar. Der Posener Stadtplan ist vor allem eine Verkehrskarte - mit Straßen, Bahnhöfen, Straßenbahnenlinien und Haltestellen, Grünanlagen, Wasserbereichen. Für die Buslinien gab es keinen Platz mehr.
Jakubowski besitzt eine ganze Sammlung historischer, meist deutschsprachiger Blindenpläne. Der schweizerische Blindenpädagoge Mathias Kuntz hatte 1871 die erste Reliefkarte für Blinde herausgegeben. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es in Marburg, Breslau und Bromberg gar Druckzentren, die die auf Karton geprägten Pläne produzierten. In den Dreißiger Jahren wurde in Breslau der erste komplette Weltatlas für Blinde gedruckt, Berlin gab schon damals einen U-Bahn-Plan samt Skizzen der einzelnen Haltestellen heraus. Einige deutsche Städte haben in den letzten Jahren Pläne für Blinde neu herausgebracht. Nun greift auch das 500.000 Einwohner große Posen diese Tradition auf.
Die Tür der Tram öffnet sich, Wilkniewski hört genau wo und findet so den Eingang. "Es werden immer leisere Straßenbahnen produziert, das macht es nicht einfacher", meint er. Nachdem er sich hingesetzt hat, weiß er genau, dass jetzt eine längere Gerade mit einer großen Kurve zum Schluss kommt. Er arbeitet als Masseur, seine Frau als klassische Sängerin. Wenn sie sich zu Zeiten des Sozialismus einmal verfahren hatten oder nicht mehr wussten, wo sie sind, hielten sie einfach ein Taxi an, das sie wieder zu einem ihnen bekannten Ort brachte. Heute können sie sich das nicht mehr leisten. "Alles kostet heute so viel, nur der Zaster zählt" - setzt Wilkniewski fort.
Die Stadtpläne bekommen die rund 700 sehbehinderten Einwohner in Posen kostenlos. Die erste Auflage orientiert sich an dieser Zahl. "Die Mehrheit der Leute sitzt zu Hause" - bedauert Jakubowski, dass sich viele Blinde einigeln. Vielleicht öffnet ihnen der Plan tatsächlich die Tür zum Leben.
Ende
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Monika Piotrowska