Ukraine

Gegen die Schere im Kopf

„Das Hauptproblem ist die Selbstzensur“, sagt die freie Journalistin Dar’ya Gorova. Sie hat in den vergangenen Jahren für unterschiedliche Zeitungen und TV-Sender gearbeitet und ist frustriert und ausgelaugt. Der Grund: Ihr wurde bereits zweimal gekündigt. Das ist nicht ungewöhnlich für die Ukraine, denn die Medien werden von regierungsnahen Oligarchen kontrolliert. Und diese lassen nur eine Meinung zu: die des Präsidenten Viktor Janukowitsch und seiner Regierung.

Eine Umfrage hat vor kurzem ergeben, dass 86 Prozent der politischen TV-Berichte von Janukowitschs „Partei der Regionen“ handeln, und nur 14 Prozent von der Opposition. Deshalb dominiert bei vielen ukrainischen Journalisten das Gefühl der Angst: Sie haben Angst ihren Job zu verlieren, wenn sie zu kritisch berichten. Eine Untersuchung von „Reporter ohne Grenzen“ aus dem Jahr 2010 unterstreicht das. Demnach müssen Journalisten, wenn sie kritisch berichten, mit massiven Einschüchterungsversuchen rechnen. Zum Beispiel wird ihnen Untersuchungshaft angedroht oder ein Geldbußverfahren eingeleitet. Nicht selten wird ihnen auch dauerhaft der Zugang zu Informationen verwehrt. Die Folge: Sie zensieren sich selbst.

Natalia Ligochova versucht mit ihrer ukrainischen Webseite „telekritika.ua“ dieser Tendenz der Selbstzensur entgegenzuwirken. Ihre Webseite, die im März 2011 mit dem Gerd-Bucerius-Förderpreis „Freie Presse Osteuropa“ ausgezeichnet wurde und 25 Mitarbeiter beschäftigt, nimmt eine Wächterrolle in der ukrainischen Medienlandschaft ein. Sie sei, so die Begründung der Jury, „wichtig für die Medien in der Ukraine“.


7. Globale Investigative Journalistenkonferenz

Die 7. Globale Investigative Journalistenkonferenz wird in diesem Jahr erstmals in Osteuropa stattfinden, und zwar vom 13. bis 16. Oktober 2011 in Kiew. Die Konferenz soll rund 500 Journalisten Gelegenheit geben, sich über Themen wie Datenjournalismus und Korruptionsberichterstattung auszutauschen.

Während der Konferenz wird auch ein Preis – der „Global Shining Light Award“ – vergeben, der investigative Leistungen aus Entwicklungs- und Schwellenländern auszeichnen soll, die unter schwierigen Bedingungen entstanden sind.

Für den Preis können noch bis zum 15. Juli Vorschläge eingereicht werden: http://i-scoop.org/index.php?id=371.


„Die Journalisten werden bei uns nicht halbtot geschlagen und dann in der Ecke liegen gelassen wie in Russland und Weißrussland, aber die Situation wird immer ernster“, stellt Natalia Ligochova mit Bedauern fest. Das Hauptproblem der Berichterstattung sieht sie darin, dass sich die Medien fest in der Hand von Janukowitschs Gefolgsleuten befinden: „Als Viktor Juschtschenko an der Macht war, wurden die Medien nicht so sehr vonseiten der Politik beeinflusst. Da gab es mehrere Machtzentren innerhalb der Regierung, sodass auch immer wieder aus unterschiedlichen Blickwinkeln berichtet wurde. Jetzt berichten die meisten TV-Sender nur über den Präsidenten und seine Regierungspartei. Und das Schlimmste ist, dass sie nicht ausgewogen berichten – Regierungsanhänger werden immer positiv dargestellt und Mitglieder der Opposition grundsätzlich negativ.“

Einen traurigen Höhepunkt in Sachen Selbstzensur erreichte die englischsprachige Zeitung „Kyiv Post“ Mitte April 2011. Dem Chefredakteur Brian Bonner wurde vom Herausgeber gekündigt, weil er sich weigerte, ein kritisches Interview mit dem ukrainischen Agrarminister aus dem Blatt zu nehmen. Die Redaktion begehrte gegen dieses Unrecht auf – zum ersten Mal in der Geschichte der Ukraine – und trat in Streik. Die stellvertretende Chefredakteurin Katja Gorchinskaja sagte: „Wir erkennen das Recht des Herausgebers an, den Chefredakteur zu ernennen und auch zu entlassen.  Andererseits können wir nicht akzeptieren, auf welche Weise und aus welchem Grund er das getan hat. Der Widerstand gegen Selbstzensur ist unserer Meinung nach kein guter Grund, einen Chefredakteur zu entlassen.“

Katja Gorchinskaja und ihr Kollege James Marson haben die 30-köpfige Redaktion während des viertägigen Streiks ermuntert, nicht aufzugeben und sich auf keinen faulen Kompromiss einzulassen: „Ich habe gemischte Gefühle. Auf der einen Seite bin ich eine alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern und brauche den Job. Auf der anderen Seite kann ich nicht akzeptieren, dass uns der Herausgeber vorschreibt, mit welchem Minister wir sprechen dürfen und womöglich, welche Fragen wir ihm stellen sollen. Das hat in meinen Augen nichts mit Pressefreiheit zu tun.“ 

Der öffentliche Druck nahm zu, auch Financial Times und Reuters publizierten Artikel zur Selbstzensur in der Ukraine. Die Folge war, dass der Herausgeber Mohammad Zahoor zurückruderte. Er erklärte, es habe sich um ein großes Missverständnis gehandelt. Daraufhin stellte er Chefredakteur Brian Bonner wieder ein und bot den Redakteuren an, ihm die Zeitung plus Webseite bis September 2011 abzukaufen, für rund eine Million Euro.

„Reporter ohne Grenzen“ verbuchte das Einlenken von Zahoor als großen Erfolg: „Diese Kehrtwende hat gezeigt, dass Herausgeber zum Umdenken bewogen werden können, wenn Journalisten und die öffentliche Meinung mobilisiert werden. Das ist ein großer Sieg für die Redaktion von Kyiv Post und ermutigt alle, die in der Ukraine für Pressefreiheit kämpfen.“

Ein Abkaufen der „Kyiv Post“ wäre nur mithilfe von Spenden möglich. Nur wenn das gelingt, könnte man unabhängigen Journalismus tatsächlich dauerhaft garantieren – gemäß dem Motto der Zeitung: „Independence. Community. Trust“ – zu Deutsch: Unabhängigkeit. Gemeinschaft. Vertrauen.
Investigative Recherche in der Ukraine


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