Lettland

"Musik in Stein"

Mehr als 800 Jugendstilhäuser machen Riga zum Mekka für Architektur-FansRiga (n-ost) - Liebhaber des Jugendstils sollten in dessen heimliche Metropole im Baltikum reisen. Nur einen Spaziergang vom mittelalterlichen Stadtkern der lettischen Hauptstadt Riga entfernt findet sich die größte Dichte an Jugendstilhäusern in Europa. Prachtvolle Bauten des Art Nouveau zieren ganze Straßenzüge, die nicht ohne Grund heute zum Weltkulturerbe der UNESCO zählen. Einheimische nennen die Fassaden oft liebevoll "Musik in Stein". Für Besucher lohnt sich besonders ein Spaziergang durch die Straßen Alberta, Elizabetes und Strelnieku.


Giebel eines Hauses in Rigas Jugendstilviertel
Nadja CorneliusZwischen 1899 und dem Beginn des Ersten Weltkrieges entstanden mehr als 800 Jugendstilhäuser in Riga. Nur Brüssel weist ältere vergleichbare Bauten auf - dort baute man schon sechs Jahre früher im Stil des Art Nouveau. Der Ingenieur Michail Eisenstein (1867-1921), Vater des legendären russischen Filmemachers Sergej Eisenstein, entwarf zwischen 1901 und 1906 als erster in Riga besonders üppige Fassaden. "Etwa 15 Mietshäuser hat der große Baumeister in seinem spezifischen Stil, in dem er Elemente der europäischen Architektur-Avantgarde miteinander variierte, erbaut", erklärt Architekturprofessor Janis Krastins. Typisch für Michail Eisenstein seien, so Krastins, die blau-weiße Farbgebung und der verschwenderische Fassadenschmuck. Eines der wohl schönsten Häuser Eisensteins steht in der Elizabetes iela Nummer 10. Hier kann man sich an ungeahnten Details kaum satt sehen: Winzige Löwenköpfe und filigrane, in Feuerschalen züngelnde Flammen wechseln sich mit geometrischen Figuren ab."Die überladene Dekoration ist aber nur Spielerei und korrespondiert wenig mit der Funktion des Gebäudes", betont Krastins. So befänden sich im Inneren der Räume anstelle von Fenstern manchmal kniehohe Gucklöcher, nur um die Harmonie der Fassaden nicht zu stören. Anders die Bauten des Letten Konstantins Peksens (1859-1928). Er habe wieder zurück zu einer funktionaleren Bauweise gefunden, in der der Zweck des Gebäudes im Mittelpunkt stehe. Damit wirken seine Fassaden allerdings eher nüchtern.Heute müssen viele dieser Häuser renoviert werden. "Während der Sowjetzeit wurden die großbürgerlichen Wohnungen in Riga aufgeteilt und zu Sozialwohnungen umfunktioniert. Viele der ehemaligen Bewohner und Eigentümer sind geflohen oder wurden nach Sibirien deportiert", erklärt Krastins weiter. Den Zweiten Weltkrieg und die sowjetische Besatzung hätten die Häuser zwar fast unbeschadet überstanden, dennoch bröckeln viele Fassaden, ihre Farbe blättert ab und Balkone müssen gesichert werden.Private Investoren, die die Häuser von Grund auf sanieren und luxuriös gestalten, sind gefragt. Dass sich das bezahlt macht, ist inzwischen kein Geheimnis mehr, denn immer mehr Firmen und Reiche wollen in Rigas Jugendstilviertel logieren.Seit über einem Jahr wird in der Vorzeigestraße Alberta iela tagein, tagaus gehämmert und geklopft. Längst haben internationale Unternehmen, elegante Restaurants und angesagte Musikklubs Rigas Art-Déco-Viertel für sich entdeckt. Das 1904 von Eisenstein erbaut Haus 4 zum Beispiel gehört einem privaten, russischen Investor. Acht großzügige Appartements hat er für das vierstöckige Gebäude vorgesehen. Der Luxus hat seinen Preis: über dreieinhalb Millionen Euro soll das Vorhaben kosten, so die beauftragte Baufirma.Originaleinrichtung, wie etwa die filigran bemalten Fußbodenfließen im Eingangsbereich, die hölzernen Fensterrahmen und Eingangsportale oder kunstvoll verzierte Kachelöfen sollen dabei erhalten bleiben. Leider wurden die bunten Kacheln von den Bewohnern herausgeschlagen und zu Geld gemacht oder gegen Lebensmittel eingetauscht. Mit ihren kunstvollen Motiven sind die verbliebenen Öfen ein wahrer Augenschmaus für Jugendstil-Liebhaber. Allein Haus Nummer 4 besitzt dreißig solcher Exponate, für jedes der Luxusappartements also mindestens vier Öfen.Aber längst noch nicht alle architektonischen Erbstücke der Stadt wurden bisher so schick herausgeputzt. Es genügt der Blick auf die andere Straßenseite, um sich davon zu überzeugen: "Unser Haus wird in den nächsten zwei Jahren nicht renoviert", sagt Inara zuversichtlich. Die 26-jährige Studentin teilt sich mit drei Freunden eine Wohnung in der Alberta iela Nummer 5 - ohne Heizung, Dusche oder Warmwasser. Dennoch: "Wir fühlen uns hier wohl", sagt sie. "Nur noch eine weitere Wohnung im Haus ist bewohnt, und das Nachbarhaus steht völlig leer." Der Besitzer, ein Exil-Lette in den USA, sei vor kurzem gestorben und das Haus stehe nun zum Verkauf.Ein Besuch in der lettischen Hauptstadt lohnt sich - nicht allein wegen des Jugendstils. Der "Rigaer Rhythmus" beschreibt einen abrupten Wechsel kleiner Holz- und großer Steingebäude, und die dadurch sehr bewegten Gesichter der Straßenzüge sind für Architekturfreunde einzigartig. Darüber hinaus laden zahlreiche Parks, Cafés und Restaurants mit Küchen aus aller Welt zwischen den Spaziergängen zu erholsamen Momenten ein.*** Ende ***
--------------------------------------------------------------------
Wenn Sie einen Artikel übernehmen oder neu in den n-ost-Verteiler aufgenommen werden möchten, genügt eine kurze E-Mail an n-ost@n-ost.org. Der Artikel wird sofort für Sie reserviert und für andere Medien aus Ihrem Verbreitungsgebiet gesperrt. Für Abdrucke zahlen Sie bitte das marktübliche Honorar, das Urheberrecht ist zu wahren. Im Übrigen verweisen wir auf unsere Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) unter www.n-ost.org. Das Honorar überweisen Sie bitte mit Stichwortangabe des Artikelthemas an die individuelle Kontonummer des Autors:Nadja Cornelius


Weitere Artikel