Tallinn begeht den "Tag des Sieges"
Der Strom der Menschen wollte nicht enden: In großen und kleinen Gruppen zog die russische Bevölkerung der estnischen Hauptstadt Tallinn am 9. Mai, dem russischen "Tag des Sieges" zum Militärfriedhof, der außerhalb des Stadtzentrums liegt. Tausende legten vor dem "bronzenen Soldaten" Blumen nieder. Wegen der Verlegung des Denkmals aus der Tallinner Innenstadt hatte es Ende April massive Unruhen gegeben. Aus diesem Grunde wurde rund um den Feiertag der Verkauf von Alkohol in ganz Estland untersagt. Auch ohne Hochprozentiges herrschte in der Stadt eine aufgewühlte, wenngleich nicht gewalttätige Stimmung. Für viele Esten ist der "bronzene Soldat" ein Symbol der sowjetischen Okkupation, die 1940 begann und erst 1991 endete. Für die russische Bevölkerung erinnert das Denkmal dagegen an den Sieg über Hitler-Deutschland.
Feierlichkeiten am umstrittenen russischen Kriegerdenkmal in Tallinn. / Ulrich Heyden, n-ost
Es war ein farbenfrohes Bild. Zu Füßen des trauernden Soldaten, der
seinen Helm in der Hand hält, türmten sich Nelken, Tulpen, Narzissen
und Rosen. Es kamen junge Familien, Berufstätige und Rentner. Aus den
Handys der Jugendlichen plärrten russische Schlager aus dem zweiten
Weltkrieg. Über der Menge schwebten weiße Luftballons mit der
Aufschrift ("Ich erinnere. Ich bin stolz"). Es herrschte eine
aufgewühlte Stimmung. Manchen lief eine Träne über die Wange.
Immer wenn sich eine Gruppe von Kriegsveteranen dem Denkmal näherte,
klatschte die Menge Applaus. Sie riefen "Molodzi" (Prachtkerle).
Mehrere Bürger meinten, so viele Menschen hätten sich am 9. Mai schon
lange nicht mehr vor dem bronzenen Soldaten versammelt.
"Warum musste Ansip [Ministerpräsident Estlands] das
Denkmal direkt vor dem 9. Mai umsetzen", fragte die Rentnerin Olga
Alexejewna. "Das war sehr ungeschickt."
Kritik an der Verlegungs-Aktion gab es nicht nur von Russen sondern
auch von Esten. Der ehemalige Ministerpräsident und jetzige
Bürgermeister von Tallinn, Edgar Savisaar, macht sich zum Führer der
Kritiker. Er gründete extra ein Bürger-Forum. Der estnische Politiker
meint, es sei ein Fehler gewesen, dass man die Bevölkerung nicht in die
Debatte um die Verlegung mit einbezogen habe. Savisaar möchte die von
dem rechtsliberalen Ansip geführte Regierung ablösen. Der Bürgermeister
hofft dabei auch auf die Stimmen der Russen, die ein Drittel der
Bevölkerung Estlands ausmachen.
Gedenken auch am ehemaligen Denkmals-Platz
Dem "Siegestag" wurde in Tallinn auch am Tynismegi-Platz gedacht, dort
wo bis zum 26. April das Denkmal des sowjetischen Soldaten stand. Den
ganzen Tag über kamen einzelne Bürger und steckten rote Nelken in den
Gitterzaun, der den Platz auf dem das Denkmal stand, absperrt. Die
sterblichen Überreste der zwölf sowjetischen Soldaten, die hier
begraben lagen, wurden bereits exhumiert. Sie sollen bis zum Juni in
der Nähe des "bronzenen Soldaten" auf dem Militärfriedhof neu bestattet
werden.
In der Stadt herrschte gestern (9.5.) eine gespannte Ruhe. Viele Bürger
fürchteten den Ausbruch von neuen Unruhen. Viele Geschäfte und
Restaurant hatten ihre Schaufenster aus Angst vor neuen Steinwürfen von
plündernden Jugendlichen mit Spanplatten geschützt. Bis zum 11. Mai
wurde der Verkauf von Alkohol verboten. Im Viru-Keskus-Einkaufszentrum
in Tallinn sind die Spirituosen-Abteilungen mit rot-weißen
Plastikbändern abgesperrt.
Deutscher misshandelt
Bei den Unruhen am 27. April in Tallin waren 1.000 Menschen
festgenommen worden. Unter den Festgenommenen waren auch viele Bürger,
die sich nicht an den Plünderungen beteiligt hatten. Der in Tallinn
lebende deutsche Rentner Klaus Dormann befand sich auf dem
Nachhauseweg, als er auf dem "Platz der Freiheit" unvermittelt
festgenommen wurde und dann zehn Stunden zusammen mit Hunderten anderen
Festgenommenen in einer Lagerhalle im Hafen festgehalten wurde.
Polizisten traktierten den ehemaligen Mitarbeiter der thüringischen
Sozialbehörde, dessen Hände mit einem Kabelband gefesselt waren, mit
Schlagstöcken. Der Deutsche wurde am Kopf und an den Armen verletzt.
Offizielles Gedenken am 8. Mai
Bereits am 8. Mai hatten Mitglieder der estnischen Regierung und
ausländische Botschafter den "Opfern des Zweiten Weltkrieges" gedacht.
An der Zeremonie beteiligte sich auch der deutsche Botschafter, Julius
Bobinger. Der russische Botschafter war nicht gekommen. Vor dem
"bronzenen Soldaten" wurde im Beisein von Ministerpräsident Andrus
Ansip und Verteidigungsminister Jaak Aaviksoo ein Kranz niedergelegt.
Kränze wurden auch vor einem jüdischen Mahnmal auf dem ehemaligen
KZ-Gelände nahe des Ortes Klooga niedergelegt, sowie auf der
Gedenkstätte Maarjamjagi. Dort liegen estnische und deutsche Soldaten,
die gegen die sowjetischen Truppen kämpften. Auf grauen Granitplatten
hat man die Namen der Einheiten eingemeisselt, die von Februar bis
September 1944 an den "Abwehrkämpfen in Estland" beteiligt waren.
Gedacht wird dort u.a. den Soldaten der Panzergrenadierdivisionen
"Nordland" und "Feldherrenhalle", der Flakgruppe "Ostland" und der
"285. Sicherungsdivision".