Der lange Schatten der Generäle
Nach dem Scheitern der Präsidentschaftswahlen bereitet sich die Türkei auf vorgezogene Parlamentswahlen vor, die für den 22. Juli vorgesehen sind. Am Wochenende hatte der Präsidentschaftskandidat Abdullah Gül, türkischer Außenminister und Mitglied der islamisch-konservativen Regierungspartei „Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) entnervt seinen Rückzug erklärt, nachdem Oppositionsparteien wiederholt die Abstimmung boykottiert und damit unmöglich gemacht hatten und aus den Reihen des türkischen Militärs wiederholt Putschdrohungen gegen einen islamischen Präsidenten geäußert wurden. Auch im Ausland war ein Aufatmen zu verspüren, das sich in Schlagzeilen wie „Abdullah Gül wirft das Handtuch“ äußerte.
Dabei sind die Verhältnisse eindeutig komplizierter, als sie im Westen derzeit betrachtet werden. Mit einem traurigen „Adieu EU” wagten einige wenige türkische Kollegen die gescheiterten Präsidentschaftswahlen nicht als Sieg der modernen Türkei gegen einen islamistischen Präsidenten sondern als Verlust der EU-Perspektive zu kommentieren. Hinter den Putschwarnungen des Militärs steht weniger die Angst vor einem islamischen Gottesstaat, als viel mehr eine wachsende Ablehnung des kompromisslosen EU-Kurses der türkischen Regierung. Zentrale Forderungen der EU, die vom Militär abgelehnt werden, sind etwa die Lösung der Zypern-Frage und die Begrenzung der Macht des Generalstabs, die symbolisch mit der Abschaffung der von Militärrichtern dominierten Staatssicherheitsgerichte eingeleitet wurde.
Gekonnt funktionierten in den vergangenen Tagen die Propaganda-Mechanismen. Während überall im In- und Ausland im Fernsehen große „Pro-Laizismus-Demonstrationen” zu sehen waren, trieb man die Gegner der Einmischung des Militärs in die türkische Innenpolitik mit Pfeffergas und Wasserwerfern auseinander. Die von linken und Menschenrechts-Gruppierungen geplante Anti-Putsch-Demonstration in Istanbul wurde am Sonntag verboten. Nur wenige kritische Zeitungen berichteten darüber. Doch zwischen den Zeilen sind die türkischen Medien momentan voll verdeckter Hinweise auf die allgemeine Unzufriedenheit über das Eingreifen der Generäle. Lange Berichte über den aktuellen Stand der Pressefreiheit im Land konzentrieren sich vor allem auf die unzähligen Prozesse, die gegen Journalisten, Politiker und Menschenrechtsaktivisten wegen angeblicher „Verunglimpfung der türkischen Streitkräfte“ geführt werden. Sie erhellen die verdeckten Hintergründe des Konfliktes zwischen türkischer Regierung und amtierenden Generalstab. Die prominente Zeitschrift „Nokta” hatte bereits Ende März Tagebücher des früheren Admirals Özden Örnek veröffentlich, in denen Putschpläne aus dem Jahre 2004 enthüllt werden. Demnach planten Teile des Generalstabs just zu dem Augenblick, als das türkische Parlament unter Federführung der türkischen Regierungspartei ein Reformpaket verabschiedete, das die Aufnahme der EU-Gespräche ermöglichte, zwei Staatsstreiche. Die Zeitschrift „Nokta“ wurde Ende April auf Druck des Militärs sang- und klanglos geschlossen, die Chefredaktion muss sich vor Gericht verantworten, „das Volk gegen die Streitkräfte aufgewiegelt“ zu haben.
Der erwähnte Ex-Admiral Özden Örnek ist Vorsitzender des „Vereins zur Bewahrung des Gedankengutes Atatürks”(ADD), der im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen die erste „Rettet-die Republik“-Demonstration in Ankara am 14. April organisierte. Vor allem unverschleierte Frauen marschierten damals zum Mausoleum des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk und warnten lautstark, die Türkei müsse laizistisch bleiben. Weitere Einblicke in die Macht der Streitkräfte verschafft der sogenannte „Semdinli-Skandal“ In Semdinli in der südostanatolischen Provinz Hakkari explodierte am 9. November 2005 ein Sprengsatz im Buchladen „Umut“ (Hoffnung), der einen Kunden tötete. Als Bombenleger wurden zwei Unteroffiziere und ein PKK-Überläufer von Passanten enttarnt und eine List mit weiteren Bombenzielen tauchte auf. Die Staatsanwaltschaft von Van ermittelte schließlich wegen der eigentlich bekannten aber öffentlich verschwiegenen Tatsache, dass die türkische Armee Terroranschläge zur Destabilisierung in den kurdischen Provinzen fingiert. In den Neunziger Jahren wurde diese Praxis als sogenannte Kontraguerillastrategie gegen die PKK verteidigt. Heute sind diese Methoden jedoch höchst umstritten und dienen der Armee vor allem dazu, heimlich Terror zu schüren und zu provozieren, um ihre ewige Wichtigkeit und Präsenz zu legitimieren.
Die wegen des Bombenanschlages in Şemdinli angeklagten Offiziere wurden in erster Instanz zu hohen Haftstrafen verurteilt und ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zur Erforschung der Hintergründe eingesetzt. Vor diesem parlamentarischen Untersuchungsausschuss sagte der Geschäftsmann Mehmet Ali Altindag aus Diyarbakir Anfang 2006 aus, dass General Yasar Büyükanit, zu dem Zeitpunkt Oberbefehlshaber der Landstreitkräfte und aussichtsreichster Kandidat auf das Amt des Generalstabschefs, in seiner Zeit als Kommandant in Diyarbakir die angeklagten Offizieren gewähren ließ, kurdische Geschäftsleute zu erpressen. Büyükanit traf daraufhin mit Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan (AKP) zusammen. Wenig später leitete Justizminister Cemil Cicek Ermittlungen gegen Ferhat Sarikaya von der die Semdinli-Untersuchung leitenden Staatsanwaltschaft Van ein, der daraufhin suspendiert wurde. Damit grub sich die Regierungspartei AKP die Grube, in die sie momentan fällt. Yaşar Büyükanit wurde August 2006 Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Er hat ein großes Eigeninteresse daran die Macht des Militärs auch in der Politik zu erhalten. Bereits direkt nach Amtsantritt wurden der AKP fundamentalistische Tendenzen und der EU eine „heimliche Agenda” unterstellt. Dazu gehört der „Verlust Zyperns” ebenso wie die durch eine liberalere Minderheitenpolitik vom Militär gefürchtete Aufweichung des unitären Staates.
Eine dem Militär gleichgeschaltete Politik in diesen Fragen vertritt die Oppositionspartei „Republikanische Volkspartei” CHP. CHP und Generalstab beeilten sich dementsprechend, die Bedrohung des Laizismus zu beschwören. Die durch die Verfassungsklage der CHP durchgesetzte Regel, dass zwei Drittel aller Abgeordneten an der Präsidentschaftswahl teilnehmen müssen, hat zuvor nie eine Rolle gespielt. Die Präsidenten Turgut Özal und Süleyman Demirel wurden seinerzeit im dritten Wahlgang mit einfachen Mehrheiten gewählt, wie es auch die AKP plante, die am Boykott der der Abstimmung fernbleibenden Opposition scheiterte. Bezeichnenderweise widersetzte sich ein CHP-Abgeordneter dem Boykott und nahm an beiden Parlamentssitzungen zur Wahl des Staatspräsidenten teil. Esat Canan vertritt den Wahlkreis Hakkari, in dem auch Şemdinli liegt.