„Ich vervollständige das Bild“
Jan Tomasz Gross ist ein US-amerikanischer Historiker und Soziologe. Er wurde 1947 als Sohn einer Polin und eines jüdischen Holocaustüberlebenden in Warschau geboren. Seit 2003 hat Gross eine Geschichts-Professur an der Princeton University inne. Gross verfasste mehrere Arbeiten zur Geschichte Polens im Zweiten Weltkrieg. Sein Buch „Nachbarn“ von 2001 löste eine hitzige Debatte in Polen aus, weil es das weit verbreitete Bild hinterfragte, das die Polen vor allem als Opfernation beschreibt. „Nachbarn“ von 2011 beschreibt die Ermordung der jüdischen Einwohner der Gemeinde Jedwabne durch ihre polnischen Mitbürger im Jahre 1941.
ostpol: Einen polnischen Bauern und einen schweizerischen Bankier verbindet ein Goldzahn aus einem jüdischen Schädel, so schreiben Sie in Ihrem Buch. Waren auch die Polen Mittäter beim Holocaust?
Gross: Am Rand des Holocaust, der von den Nazis durchgeführt wurde, beteiligte sich auch die einheimische Bevölkerung an der Judenverfolgung. Überall im besetzten Europa gelang es den Deutschen, die Einheimischen und die örtlichen Strukturen einzubeziehen – und zwar in allen Stadien des Holocaust: bei der Isolierung, der Ausbeutung und später der Vernichtung der Juden.
Das war überall in Europa so, sagen Sie. Doch Sie konzentrieren sich in ihren Büchern auf Polen. Warum?
Gross: Polen ist in vielerlei Hinsicht besonders. Es war das einzige Land, das gleich von zwei Mächten besetzt war – der Sowjetunion und Deutschland. Die Nazis haben drei Millionen Juden in Polen ermordet. Außerdem bin ich in Polen geboren und aufgewachsen, ich fühle mich als Pole und habe nie das Interesse an diesem Land verloren.
Polen kämpften gegen Nazis, versteckten jüdische Mitbürger – dieses Selbstverständnis ist bei den meisten Polen tief verankert. Sie zeigen eine andere Realität.
Gross: Ich vervollständige nur das Bild. In Polen gab es eine antinazistische Untergrundbewegung, es gab mutige Menschen, die Juden gerettet haben, obwohl ihnen die Todesstrafe drohte. Aber es gab auch eine Schattenseite. Teile der polnischen Bevölkerung haben aus dem Unglück der Juden Nutzen gezogen. Deshalb war es auch so schwer, Juden zu verstecken: Die Leute fürchteten sich vor ihren Nachbarn. Die deutsche Polizei gelangte nur selten allein zu versteckten Juden, jemand musste sie benachrichtigt haben, jemand aus der Gegend, ein anderer Pole. Die Nazis nutzten die schlimmsten Instinkte der Menschen aus. Sie nahmen den Juden jeden Rechtsschutz, so dass man sie straflos umbringen durfte und noch seinen Nutzen daraus ziehen konnte.
Heißt das, dass die Polen, oder zumindest diese Polen, die gleiche Schuld am Holocaust tragen wie die Nazis?
Gross: Jeder, der denken kann und etwas historische Wissen hat, weiß, dass der Holocaust ein grausames Unterfangen der Nazis war. Dass sie dabei aber auf unterschiedliche Art und Weise die Einheimischen mit hineinzogen, das ist eine historische Tatsache. Ohne die Deutschen wäre es aber in Polen nicht zu den Morden gekommen. Immerhin lebten hier Jahrhunderte lang Juden, oft als Nachbarn derjenigen, die später zu ihren Mördern wurden. Vor dem Krieg gab es jedoch nur vereinzelt Fälle von Gewalt gegen Juden und hatte nie diese Größenordnungen. Es gab aber versteckte Konflikte, die nur aufgewärmt werden mussten. Und die Behörden ermutigten ja zur Beteiligung an der Judenverfolgung – sie belohnten diese sogar.
Und viele Polen haben sich davon locken lassen. Warum?
Gross: Berichte der Untergrundbewegung zeigen, dass bereits die anfängliche Politik der Besatzer, die sich damals noch auf wirtschaftliche Ausbeutung konzentrierte, auf Unterstützung weiter Teile der polnischen Bevölkerung stieß. Immerhin wollten schon vor dem Krieg Nationalisten und teilweise auch die Kirche die Rolle der Juden beschränken. Und in der Endphase des Holocaust, als es keine Ghettos mehr gab, herrschte die Meinung: „Hitler ist ein böser Mensch, aber er hat uns von den Juden befreit.“ Und diese Meinung war leider verbreitet.
In Polen betont man dagegen die hohe Zahl der sogenannten „Gerechten“, Leute, die von Israel für ihre Hilfe für Juden ausgezeichnet wurden. Darüber schreiben Sie nicht. Ihre Kritiker sagen, sie vermitteln ein einseitiges Bild.
Gross: Ich schreibe immer auch über Leute, die Juden gerettet haben. Wenn ich über den Holocaust schreibe, dann auch darüber, wie riskant und gefährlich die Hilfe für Juden war. Aber über die „Gerechten“ wurde schon viel geschrieben, man sollte sich auch mit der anderen Seite der Geschichte beschäftigen.
Kann man verlangen, dass jemand sein Leben für einen anderen Menschen riskiert?
Gross: Dass die Leute aus Angst nicht geholfen haben, ist vollkommen in Ordnung. In der Tat konnte man dafür mit einem Leben bezahlen. Das ist die Tragödie der Juden, aber nicht der Polen. Das Tragische für Polen ist, dass es viele gab, die aktiv bei der Vernichtung geholfen haben. Es ist nicht schlimm, wenn man einem Juden ein Stück Brot gibt, und ihn wegschickt. Schlimm ist, wenn man ihn einlädt und dann ein Kind zur Polizei schickt, damit sie diesen Juden schnappt. Und das ist das, was nicht passieren durfte. Aus Angst musste man sich so nicht verhalten.
Die erste Debatte über die komplizierte Vergangenheit fand in Polen 2001 statt, nachdem Ihr Buch „Die Nachbarn“ erschienen ist. Sie beschreiben darin die Beteiligung von Polen an der Ermordung tausender Juden im Dorf Jedwabne. Hat sich die Haltung der Polen gegenüber ihrer Vergangenheit verändert?
Gross: Enorm. Man kann jetzt über Sachen reden, die früher tabu waren. Als ich 2001 gesagt habe, dass auch Polen Juden ermordet haben, wurde ich beschimpft. Jetzt streitet diese Tatsache keiner mehr ab, selbst die Kritiker meines Buches nicht. Sie stellen die Zahlen in Frage, oder die Herkunft der Bilder, die ich im Buch habe. Aber die Fakten werden akzeptiert. In Polen gibt es anders als im Rest Osteuropas wenigstens eine Debatte. In Rumänien, Ungarn oder der Ukraine, wo noch viel schlimmere Sachen passiert sind, ist die Beteiligung am Holocaust immer noch ein Tabu.