Tschechien

"Rehabilitation des Wortes und des Geistes"

Prag (n-ost) - "Das war die pure Treibjagd", erinnert sich Helena Seidlová heute an die Ereignisse vor 30 Jahren. Die zierliche Frau gehörte 1977 zu den 242 Erstunterzeichnern der Charta 77 und musste wie so viele für ihre mutige Tat mit der Verfolgung durch den kommunistischen Machtapparat bezahlen. "Ich hatte schon geahnt, dass sie mich entlassen würden. Aber ich hatte erwartet, dass sie das unter einem Vorwand machen. Dass ich beispielsweise dreimal zu spät zur Arbeit gekommen bin und sie mich damit zwingen, selbst die Kündigung einzureichen. Aber die Entlassung kam sofort."Dabei war die damals sehr junge Bibliothekarin bis dahin keineswegs der Opposition zuzurechnen. Sie arbeitete in einer angesehenen Bibliothek, dem Denkmal des tschechischen Schrifttums. Ihr war sehr wohl bewusst, dass sie diesen Arbeitsplatz riskierte. Aber über der Tschechoslowakei lag in dieser Zeit die bleierne Schwere der Normalisierung. Eine Zeit der "Erstarrung", wie es Helena Seidlová ausdrückt, die auf die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 folgte. Als dann ein Bekannter mit dieser Erklärung auf sie zukam und sie um eine Unterschrift bat, wusste sie sofort: "Das war genau das, was ich gebraucht habe!"Die Initiatoren der Charta hatten ihr Unternehmen gut durchdacht. Der Text der Erklärung sollte nicht zu früh in falsche Hände geraten. Also gaben sie den Unterzeichnern den Text immer nur kurz zum Lesen. Die Unterschrift wurde auf einem extra Kärtchen geleistet und bezog sich auf den meist gleichen Wortlaut: "Ich stimme der Erklärung der Charta 77 vom 1.1.1977 zu." Die Erklärung mit den ersten unterschriebenen Kärtchen sollte dann am 6. Januar dem tschechoslowakischen Parlament und der Regierung übergeben werden. Dazu kam es aber nicht mehr. Nach einer riskanten Verfolgungsjagd wurden die drei Überbringer, Pavel Landovský, Václav Havel und Ludvík Vaculík, von der Staatssicherheit verhaftet und sämtliche Dokumente beschlagnahmt. Es gelang aber die Charta in westlichen Zeitungen wie The Times, Le Monde und der Frankfurter Allgemeinen Zeitung publik zu machen. "Hunderttausenden von Bürgern wird die Freiheit von Furcht verweigert", heißt es in der Charta. Die Menschen lebten in einem "System faktischer Unterordnung sämtlicher Institutionen und Organisationen im Staat unter die politischen Direktiven des Apparats der regierenden Partei".
Unterschriften-Kärtchen zur Unterstützung der Charta 77. Foto: privatDie Kärtchen mit den ersten Unterschriften, Verhörprotokolle und weitere wichtige Materialien aus den Archiven der Staatssicherheit und des Innenministeriums wurden erst vor kurzem in den Archiven der Staatssicherheit gefunden. Bis Sommer 1977 hatte die Charta 600 unterzeichner, bis Ende 1977 waren es 800. Mehr als 17 Jahre nach der politischen Wende in der damaligen Tschechoslowakei leitet der Zugang zu diesen Materialien nun eine neue Phase in der Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit ein. Erste Erkenntnisse hierzu brachte vor kurzem eine Internationale Konferenz in Prag, zu der sich Historiker und Zeitzeugen aus Anlass des 30-jährigen Jubiläums der Charta 77 versammelten.Zu ihnen gehört der frühere Außenminister der Niederlande, Max van der Stoel, der nur wenige Wochen nach Veröffentlichung der Charta 77 zu einem offiziellen Besuch in Prag weilte und dem Philosophen und ersten Sprecher der Charta, Jan Patocka, Raum zur öffentlichen Darstellung auf seiner Pressekonferenz einräumte. Gleichzeitig betonte er, ganz Diplomat, das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten des Staates zu respektieren.Grundlage dieser Haltung war auch die Schlussakte der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) vom 1. August 1975, die zwar die Einhaltung der Menschenrechte verbindlich festschrieb, aber letztlich zu einer Zementierung der friedlichen Koexistenz von West und Ost geführt habe. Friedliche Koexistenz bedeutete mehr oder weniger, dass die eine Seite die andere in Ruhe ließ. Die KSZE-Erklärung über die grundlegenden Menschenrechte schien dabei wie eine leere Worthülse zwischen den Blöcken zu zerbröseln. "Diese Floskeln werden nicht dazu beitragen, das Leiden der Menschen im Ostblock zu beenden - das war die vorherrschende Meinung damals im Westen", ruft van der Stoel heute den geringen Stellenwert der Erklärung in Erinnerung. Die Schlussakte war ein "Tauschgeschäft" wie es die Charta-Unterzeichnerin und Politologin Alena Hromádková formulierte: Wir erkennen eure "Oder-Neiße-Friedensgrenze" an und ihr dafür die Charta der Menschenrechte.Es musste erst eine Schar "verkrachter Existenzen" kommen, wie sie die offizielle tschechoslowakische Propaganda wutschäumend nannte, um das Tauschgeschäft für den Westen auf lange Sicht zu versilbern. Sie taten dies auf einfache und zugleich sehr wirkungsvolle Weise. Ganz legal - die KSZE-Schussakte wurde 1976 von der Tschechoslowakei ratifiziert - prangerten sie Menschenrechtsverstöße im kommunistischen System an und entlarvten damit die verlogene Politik ihres Staates. Das war keine Taktik, sagt Václav Havel heute. "Es ging bei der Charta 77 um eine Rehabilitation des Wortes und des Geistes, ganz im Sinne des Philosophen Jan Patocka." Der Staat wurde einfach beim Wort genommen - ein Prinzip, das für Havel heute noch lebendig ist. Und gerade mit diesem Beim-Wort-Nehmen trafen die Initiatoren der Charta den sozialistischen Staat an seiner empfindlichsten Stelle. Nicht anders ist die geradezu hektische Reaktion des Machtapparats auf die Tat der 242 Unerschrockenen zu erklären.Das rücksichtslose Vorgehen des Startes hatte für die Charta 77 einen immensen Werbeeffekt, sagt der Schriftsteller Pavel Kohout, von dem übrigens der markige Titel "Charta 77" stammt. Es verging im Januar 1977 fast kein Tag, an dem im Radio nicht mindestens eine Erklärung eines aufrechten Arbeitskollektivs verlesen wurde, das die Charta 77 verurteilte und sein unerschütterliches Vertrauen in den Staat bekundete.Der ungewollte Werbeeffekt war allerdings das einzig Angenehme an der staatlichen Reaktion. Jeder der Unterzeichner geriet unweigerlich in das Visier der Staatssicherheit und wurde Ziel staatlicher Repressionen. Dabei war der Verlust der Arbeitsstelle noch zu verschmerzen. In weiser Voraussicht hatte in der Regel nur ein Ehepartner die Erklärung unterschrieben, damit der Partner das Geld verdienen konnte. Aber auch das war nicht sicher, oft waren auch die Angehörigen betroffen. Helena Seidlová hatte Glück, ihr Mann konnte weiter in der Philharmonie spielen. "Schlimmer war der psychische Druck", sagt sie heute: "Gerade weil ich für die Polizei so eine Unbekannte war, wollten sie herausbekommen, wohin ich gehöre, und deshalb musste ich ständig zum Verhör. Manch einer hatte nur ein Verhör, aber ich war dort ständig. 1977 zunächst sehr oft und in größer werdenden Abständen immer wieder bis 1988." Eines dieser teils stundenlangen Verhöre war auch der Grund für den vorzeitigen Tod des Philosophen Jan Patocka am 13. März 1977.Patocka war die moralische Leitfigur der Charta 77 gewesen, der viele dazu brachte, sich an der Menschenrechtsbewegung zu beteiligen. Auch für Frau Seidlová war Patocka entscheidend. "Es gab immer wieder Unterschriftenaktionen gegen etwas. Aber hier wirkte vor allem der Name von Jan Patocka, den ich kannte, und der ganz sicher kein euphorischer Revolutionär war. Ganz im Gegenteil, das war ein Wissenschaftler von großem Format, der aber begriff, dass seine Person wichtig ist und darum diese Initiative unterstützte und sie mit seinem Schicksal verband", sagt die Bibliothekarin.Die Charta 77 verlor mit Patocka zwar ihre moralische Instanz, aber sein Wort und sein Geist wirkten weiter. Auch wenn die Charta bis 1989 nur von etwas mehr als 1.800 Menschen unterzeichnet wurde, erreichte sie doch ungleich mehr Menschen. Die Charta 77 hat den Revolutionen des Jahres 1989 den Boden bereitet. Darin waren sich die Teilnehmer der Konferenz in Prag einig. In direkter Weise wirkte die Charta auch in die Nachbarländer des sozialistischen Blocks hinein. Die jeweiligen Oppositionsbewegungen in Polen, Ungarn, der Sowjetunion und der DDR profitierten davon. Das bestätigt der polnische Mathematiker und frühere Oppositionelle Jan Lytinski.Die Charta 77 wirkt aber noch weit über das Jahr 1989 und die Staaten Mittel- und Osteuropas hinaus, wie westliche Teilnehmer wie der schon erwähnte van der Stoel, der französische Politologe Jacques Rupnik oder der US-amerikanische Historiker Tom Blanton feststellen. Denn auch für die westliche so genannte "Realpolitik" war die Charta 77 eine große Herausforderung, so Blanton. Und mit ihrer Verbindung von Politik und Moral bleibt sie es bis heute. Vor allem aber sind die Belebung der Menschenrechte und der Einsatz für ihre Umsetzung in starkem Maße der Charta 77 zu verdanken.Wenn sich Chartisten, wie sie heute kurz genannt werden, versammeln dann hat das etwas von Klassentreffen. Da steht der ehemalige Präsident neben dem Pfarrer, der ehemalige Außenminister neben der Bibliothekarin, die Hausfrau neben der Schauspielerin oder der Verfassungsrichter neben der Lehrerin. Auch wenn sie zum Glück nicht mehr als Putzfrau, Maschinist oder Lagerarbeiter arbeiten müssen, so fällt doch auf, wie viele unterschiedliche Menschen noch neben den wenigen bekannten Gesichtern zu sehen sind. Und man bekommt wieder das Gefühl der Gleichberechtigung und der Solidarität, das damals diese Menschen trotz unterschiedlichster Herkunft einte.
INFO-KASTEN:
Zu den 242 Erstunterzeichnern der Charta 77 gehörte auch der Dichter Jaroslav Seifert, der 1984 den Nobelpreis für Literatur erhielt. Weitere bekannte Unterzeichner der ersten Stunde waren die Kunsthistorikerin Anna Fárová, die Sängerin Marta Kubišová, die Schauspielerin Vlasta Chramostová und der Schriftsteller Jan Trefulka. Marta Kubišová wirkte in der Anfangszeit sogar als Sprecherin. Die Charta wurde immer von drei Sprechern vertreten, die auch die regelmäßig verfassten Erklärungen zu gesellschaftlichen Fragen und Problemen unterzeichneten. Bis 1989 fand die Charta 77 rund 2000 Unterzeichner. 1992, nach dem Zusammenbruch des Kommunsimus, löste sich die Charta 77 als Bewegung auf. Weiter existiert jedoch noch die Stiftung Charta 77, die bis 1989 rund vier Millionen Dollar an Spenden für die Charta eingeworben hat. Größte Einzelspender waren der Finanzier George Soros und Václav Havel, der seine im Westen gewonnenen Preisgelder zur Verfügung stellte. Bis heute unterstützt die Stiftung Menschenrechtsaktivitäten und lobt regelmäßig Preisgelder aus.
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