Schwer vorstellbarer Albtraum
Nach erschütternden Einzelheiten über die Hintergründe der grausamen Morde an drei protestantischen Christen der “Freiheitskirche” im ostanatolischen Malatya, hat in der Türkei eine differenzierte öffentliche Debatte über die Gewalt gegen Christen und Minderheiten eingesetzt. Bereits am Mittwoch kritisierten seriöse Nachrichtensender wie n-tv und CNN-Türk Äußerungen prominenter Politiker, die in der Vergangenheit christliche Mission als Bedrohung der nationalen Sicherheit und der kulturellen Integrität der Türkei verunglimpft hatten. In der Türkei ist das ein Novum - religiöse Inhalte wurden in dem laizistischen Staat im Rundfunk nur zu höchsten islamischen Feiertagen geduldet, religiöse Minderheiten wurden ignoriert. Tatsächlich müssen sich prominente Politiker und Institutionen nun der Frage stellen, inwieweit sie mitverantwortlich sind an der feindlichen Atmosphäre gegen religiöse Minderheiten.
Die Tageszeitung Radikal berichtet in ihrer Freitags-Ausgabe, dass selbst im Nationalen Sicherheitsrat der Türkei die Gefahr der Missionarstätigkeit beschworen worden sei. Dabei verzeichnet das türkische Innenministerium zwischen 1999 und 2006 nur 344 Personen, die zum Christentum konvertierten. Vergleichsweise gut steht in der Presseschau Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan da. Als islamisch konservativer Politiker hatte er bereits 2005 Vorbehalte gegenüber der Missionstätigkeit von Ausländern in der Türkei kritisiert. “Wenn wir in Deutschland tausende Gemeinden und Moscheen einrichten, ist es unzulässig, Gleiches bei uns nicht zu erlauben. Niemand sollte sich vor Religionsfreiheit fürchten.”Die Regierungspartei für “Gerechtigkeit und Fortschritt” (AKP) fordert eine rückhaltlose Aufklärung der Morde. Damit bezieht sie Front gegen die Polizei von Malatya, die die Täter bereits am Donnerstag als Psychopaten ohne ideologisches Umfeld darstellte. Ähnliches hatte die Polizei von Trabzon nach der Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink im Januar behauptet. Danach waren enge Verbindungen des Umfeldes der Täter zum Polizeiapparat aufgetaucht.
Mittlerweile wurden fünf weitere Verdächtige aus dem Umfeld der Christen-Mörder festgenommen. Bereits jetzt werden eklatante Mängel in der Arbeit der Polizei vor Ort deutlich. Der christliche Bücher vertreibende Verlag “Zirve” (Gipfel) wurde seit Jahren bedroht und hatte deshalb sogar im Vorfeld den Namen geändert. Der Anführer der Tatverdächtigen, Emre Günaydin (19), wurde im Januar aus dem religiösen Wohnheim geworfen, in dem seine Mittäter noch wohnten. Vor einigen Tagen war Günaydin von besorgten Passanten angezeigt worden, weil er mit einer Gruppe junger Männer Schießübungen auf einem freien Gelände in der Nähe des Fußballclubs Malatyaspor veranstaltete. Sie wurden jedoch nach kurzer Befragung wieder auf freien Fuß gesetzt und nicht weiter beobachtet. Auf der Webseite von Malatyaspor wurden die Mörder am Donnerstag von Fans im Chatroom als “Ritter von Malatya” gefeiert. Deren Taten präsentieren sich nach den Berichten der Polizei als schwer vorstellbarer Albtraum, der mit Plan und Vorsatz ausgeführt wurde. Nach den ersten Vernehmungen wird deutlich: Die Tatverdächtigen planten die Morde seit zwei Monaten. In die protestantische Gemeinde haben sie sich unter geheucheltem Interesse am Christentum eingeschlichen. Sie nahmen am achten April an der Osterfeier der Gemeinde im Hotel „Zur goldenen Aprikose” teil.
Also öffneten Pastor Necati Aydin (35), der deutsche Bibelforscher Tilman Geske (46) und der vor zwei Jahren erst konvertierte Ugur Yüksel am Mittwoch um etwa zehn Uhr morgens ihren Mördern ahnungslos die Tür. Die fünf Tatverdächtigen sollen sie daraufhin sofort an Stühle gefesselt und stundenlang mit Messerstichen gequält und “verhört” haben. Als um 13 Uhr das Gemeindemitglied Gökhan Talas das Verlagsbüro verschlossen vorfand und nach einem Telefongespräch mit dem kurz darauf ermordeten Ugur Yüksel Verdacht schöpfte, alarmierte er die Polizei. Die Täter töteten ihre Opfer erst, nachdem sie die Polizei an der Tür hörten; der mutmaßliche Anführer warf sich aus dem Fenster. Alle Tatverdächtigen trugen Abschiedsbriefe bei sich. Ein ultranationalistischer Hintergrund vermischt mit islamistischen Motiven ist relativ sicher.
Folter und Hinrichtungsart erinnert nicht nur an Methoden des Terrornetzwerks al- Qaida, sondern hatten auch in der Türkei der 90er Jahre im Umfeld der türkischen Hisbollah Entsprechungen. Zentral bleibt die Frage, welche gesellschaftliche Stimmung zu diesen Eskalationen führt. Vertreter christlicher Minderheiten, darunter der orthodoxe Patriarch Bartholomäus, verurteilten am Donnerstag die Tat auf das Schärfste. Er forderte, nicht den Islam oder die gesamte Türkei verantwortlich zu machen.