Lettland

Kraftwerk in Riga wird Kunsttempel

Mit einem Paukenschlag will das kleine Lettland sich in der internationalen Kunstszene Gehör verschaffen: 2010 soll in der Hauptstadt Riga ein Museum für zeitgenössische Kunst eröffnet werden, gestaltet von dem niederländischen Star-Architekten Rem Koolhaas. In seinem Entwurf umgibt Koolhaas ein ehemaliges E-Werk am Rigaer Hafen mit einer Haut aus Glas. „Das alte Gebäude wird wie ein Insekt in Bernstein eingeschmolzen“, kommentiert Rigas Stadtarchitekt Janis Dripe das Modell des Niederländers. Unter jene gläserne Haut sollen später Ausstellungsräume, ein Tagungssaal, ein Museumsshop, ein Café und ein Kino einziehen. Im Inneren des ursprünglichen Gebäudes plant Koolhaas Büros, Werkstätten, Konferenzräume, eine Bibliothek und ein Lager.


Designskizzen von Rem Koolhaas. Foto: Office for Metropolitan Architecture

Lettland im Zeittunnel

Für Lettlands Übergangsgesellschaft ist das Bauwerk ein Meilenstein auf dem Weg von der ehemaligen Sowjetrepublik hin zu einem modernen europäischen Staat. In dem mittleren der drei baltischen Staaten erscheint ein typischer Wintertag stets ein Quäntchen grauer als anderswo. Die 2,3 Millionen Einwohner wandeln wie in einem Zeittunnel zwischen verschiedenen Epochen. Auf dem Land leben die meisten als sei die Moderne unbemerkt an ihnen vorüber gezogen. Gehöfte liegen wie Inseln in die Landschaft gestreut. Pferdegespanne kreuzen zuweilen die Wege. Hier leben die Alten, mit Plumpsklos und Feuerstellen statt elektrischen Kochplatten. In der Hauptstadt Riga ist dagegen alles im Fluss. Topmoderne Häuser und Bürokomplexe schießen wie Pilze aus dem Boden. Überall wird gebaut, restauriert, abgerissen. An jeder Ecke eröffnen gestylte Cafés, und westeuropäische Autos jagen durch die Straßen. Auf dem Weg zum ehemaligen Industriehafen Andrejsala am Rande der Rigaer Altstadt, dort, wo das zeitgenössische Kunstmuseum entstehen soll, bietet ein hutzeliges Großmütterchen ein mageres Sträußchen Tannenzweige feil. „50 Cent!“, lockt sie. Zwei junge Männer schlendern cool an dem Mütterchen vorüber. „Punk´s not dead“, steht auf den Rücken ihrer Lederjacken. 

Künstlerkommune in Riga

Das der Punk in Lettland noch lebt merkt man auch in Andrejsala: Am Fluss Daugava spielt eine Rockband ohrenbetäubend laut in den Abendhimmel. Auf dem Areal des alten Industriehafens ist ein kleines Paradies für Künstler und Freigeister entstanden. Die Projektentwickler haben ihnen die Gebäude rund um das alte E-Werk vorübergehend zur Verfügung gestellt. Für die lettische Kunstszene eine einmalige Chance, experimentell zu arbeiten und offen ihr Schaffen zu präsentieren. Ausstellungen, Musik, Performances, selbst ein Künstlerhostel – hier ist alles möglich. Zwei Dutzend Leute stehen in einer riesigen Containerhalle, zerrissene Jeans- neben Krawattenträgern, mucksmäuschenstill – sie lauschen einem improvisierten Theaterensemble. Ein Raum weiter drängeln sich Besucher vor einem riesigen Müllberg aus leeren Coladosen, Zeitungsknäueln, Milchpackungen und Zigarettenstummeln, zum Kunstwerk umfunktioniert. Mit Macht holen die lettischen Künstler ein Stück verspätete Freiheit nach. Bis 2010 haben sie Zeit, dann müssen sie weichen. Ähnlich wie im Düsseldorfer Medienhafen plant man rund um das Kunstmuseum im Rigaer Industriehafen einen „neuen Stadtteil“ mit Bürokomplexen, Cafés und Galerien.„Die Leute wollen Andrejsala gar nicht mehr hergeben“, schmunzelt Mario Zetzsche. Der 26-Jährige ist Stipendiat der Hamburger Alfred Toepfer Stiftung und unterstützt ein internationales Team, das die zeitgenössische Sammlung für das geplante Kunstmuseum zusammenstellt. Hauptsponsor ist eine lettische Bank. „Lettischer Fokus, aber dennoch länderübergreifend“, lautet das Konzept der Sammlung. Dabei denke man auch an estnische, litauische, finnische, schwedische, deutsche und russische Werke – Kunst aus Ländern, die die gemeinsame Geschichte miteinander verbindet, erklärt Zetzsche. Gleich elf internationale Kunstexperten seien für die Auswahl der Exponate zuständig. Auch ein Deutscher ist im Team: Norbert Weber, der die NEMO-Galerie in Eckernförde mit dem Ziel gegründet hat, unter anderem baltische Künstler in Deutschland bekannt zu machen.


Sammlungsmanager Mario Zetzsche bei der Arbeit. Foto: Nadja Cornelius

Mittels einer eigens entworfenen Online-Datenbank kommuniziere das in Europa verstreute Expertenteam untereinander. „Das ist eine absolute Neuheit in der Museumslandschaft“, schwärmt Zetzsche. „Unsere Datenbank ermöglicht es, online abzustimmen, von wo aus auch immer, Ideen zu verwerfen oder neue Vorschläge zu machen.“ Ein kluger Kunstgriff, um den Ankauf der Werke zu optimieren.

Freier Eintritt für alle

„Unser Motto ist totale Zugänglichkeit“, verspricht Zetzsche. Koolhaas Glasmantel vermittele Transparenz, Offenheit und Helligkeit – nach jahrzehntelanger sowjetischer Bauweise wohl Balsam für die lettische Volksseele. Um auch Kunstmuffel für moderne Meister zu interessieren, soll es im Museum freien Eintritt für alle geben. Außerdem sollen die Besucher Künstlern und Restauratoren bei der Arbeit über die Schultern sehen können. Auch Workshops stünden auf dem Programm. Ein innovativer Ansatz, der mit dem verstaubten Museums-Image brechen soll. Der Hauptinvestor kommt aus Norwegen. Er finanziert gemeinsam mit der Stadt und der Hafengesellschaft den Museumsbau und erhält gleichzeitig das Recht, den neuen Stadtteil zu entwickeln. Das Projekt könne Riga „zu internationalem Ansehen verhelfen“, drückt eine Spaziergängerin die Erwartungen vieler Letten aus.

Internationale Reaktionen schon jetzt

Internationales Aufsehen erregt das Museumsprojekt schon lange: Wer nicht mehr bis 2010 warten will, kann Ende Juni zur Europäischen Zentralbank nach Frankfurt fahren, wo Werke aus der Sammlung des zukünftigen Museums für zeitgenössische Kunst präsentiert werden. Außerdem, so Zetzsche, plane das Institut für Auslandsbeziehungen, IfA, das lettische Projekt in seiner Ausstellungsreihe „STADTanSICHTen“ vorzustellen, die 2008 in Berlin und Stuttgart zu sehen sein wird.


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