„Die Überlebenden können sich nur verraten fühlen"
Vergangene Woche bewertete der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen das Massaker von Srebrenica zwar als Völkermord, sprach aber den serbischen Staat von jeglicher juristischer Verantwortung für das 1995 an muslimischen Bosniern begangene Verbrechen frei. Etwa 8000 Menschen wurden damals von serbischen Paramilitärs unter Führung des Generals Ratko Mladic ermordet, rund 110.000 Menschenleben forderte der gesamte Krieg in Bosnien-Herzegowina.
Der bosnisch-muslimische Schriftsteller und Journalist Emir Suljagic hat nicht nur das Massaker, sondern dabei auch eine persönliche Begegnung mit dem wegen Kriegsverbrechen und Völkermord immer noch gesuchten Mladic überlebt. Suljagic arbeitete damals als Übersetzer für die Vereinten Nationen, was ihm das Leben rettete. Der heute 32-Jährige verlor jedoch einen Großteil seiner Familie durch das Massaker. Seitdem forscht er im Auftrag der bosnischen Wochenzeitung, Dani, über die Kriegsverbrechen, die in Bosnien-Herzegowina geschehen sind. Er ist außerdem Schriftsteller und in seinem Buch "Postkarten vom Grab" erzählt er von dem, was er Mitten im Horror erlebt hat. Die Zeitschrift "The Economist" nannte dieses Buch ein "Meisterwerk, das überleben wird".
Der Friedhof von Potocari-Srebrenica: Rund 110.000 Menschenleben forderte der Krieg in Bosnien-Herzegowina / Norbert Rütsche, n-ost
Emir Suljagic war gerade 17, als der Krieg im Mai 1992 sein Dorf Bratunic an der Grenze zu Serbien erreichte. Von einem Berg oberhalb des Dorfes beobachtete er mit seinem Vater, wie Lastwagen des serbischen Heeres den Fluss Drina kreuzten, um in Bosnien einzudringen. Als ihnen klar wurde, was sich gerade vor ihnen abspielten, ergriffen sie sofort die Flucht. Sie flüchteten in die Wälder und waren über ein Tag unterwegs, bis sie ein Dorf fanden, das noch nicht unter serbischer Kontrolle war.
Schließlich kamen Suljagic und sein Vater nach Srebrenica - damals noch ein sicherer Ort. Seine Mutter und Schwester steißen kurz darauf zu ihnen und erzählten von Gräueltaten, die sich in ihrem Dorf abgespielt hatten. Ein ehemaliger Busfahrer, den sie alle kannten, soll unter denen gewesen sein, die das Blutbad angerichtet hatten. Suljagics Vater kam im Dezember 1992 um, als er versuchte, in das Dorf zurückzukehren. Seine Mutter und seine Schwester gingen im April 1993 weiter nach Tuzla. Suljagic blieb die nächsten drei Jahren mit seinen Großeltern in Srebrenica.
"Die Überlebenden nicht nur von Srebrenica, sondern auch der anderen Verbrechen in Bosnien-Herzegowina können sich eigentlich nur verraten fühlen." Mit diesen Worten kommentiert Emir Suljagic, der derzeit in Hamburg lebt, das Urteil des Internationalen Gerichthofs in Den Haag. "Die Botschaft ist traurig und beunruhigend: Gewalt lohnt sich", so Suljagic. "Man hat Serbien nicht zur Verantwortung gezogen. Die politischen und ideologischen Kräfte, die hinter diesem Völkermord und der Aufteilung Bosniens stehen, werden mit diesem Urteil sicher sehr zufrieden sein."Der Schlüssel in diesem juristischen Fall liegt laut Suljagic, darin, zu beweisen, wer das Kommando und die Macht über die serbische paramilitärische und militärische Einheiten hatte, die zehntausende von Menschen während der ethnischen Säuberung in Bosnien zwischen 1992 und 1995 töteten. Srebrenica war der Höhepunkt der Ausrottung der Moslems im östlichen Teil Bosniens.
Dies begann bereits im Frühjahr 1992 in Städten wie Foca und Visegrad - Schauplatz des Buches "Die Brücke über die Drina" des bosnischen Schriftstellers und Nobelpreisträger Ivo Andric. In diesem Gebiet leben heute nur noch Serben. Vor dem Krieg waren 70 Prozent der Bevölkerung muslimische Bosnier."Es gibt zahlreiche Beweise, dass ein Völkermord in Bosnien-Herzegowina stattfand, und dass er ohne die aktive Rolle Serbiens nicht hätte durchgeführt werden können", betont Suljagic. In einer seiner Analysen, die er für eine Klage des Bosnien-Instituts in London verfasst hat, erinnert er an eine Aussage des politischen Führers der Serben in Bosnien, Radovan Karadzic, der zusammen mit General Mladic, des Völkermordes in Srebrenica beschuldigt worden ist: "Als der Krieg begann hat das jugoslawische Militär uns ihre uneingeschränkte Unterstützung zugesichert."
Suljagić hat seine Kriegserlebnisse in dem Buch "Postkarten vom Grab" verarbeitet. Darin beschreibt er minutiös, was sich in diesen grauenvollen Tagen in Srebrenica abgespielt hat: angefangen vom Zeitpunkt, als die Stadt belagert wird und diese ehemalige Enklave, die eigentlich unter dem Schutz der UN-Friedenstruppen stand, in die Hände der Serben fällt. Jedes Bild, das Suljagić beschreibt, jeder Absatz, jeder Dialog, jede Beschreibung ist absolut glaubwürdig. Man spürt seine Leidenschaft, seinen Schmerz und seine Verzweiflung.Mehrfach hat Emir Suljagić als Zeuge vor dem Tribunal in Den Haag ausgesagt. "Mladić ist persönlich für den Tod von fast jedem, den ich in Srebrenica kannte, verantwortlich. Er hat sie entweder selber umgebracht, oder er hat den Befehl dafür gegeben. Es gibt überhaupt keine Zweifel darüber", sagt Suljagic.
Mladic sei persönlich an all den Orten erschienen, wo Massenmorde stattfanden - wie die wenigen anderen Überlebenden des Massakers einmütig vor dem Tribunal bezeugen. "Seine Offiziere Momir Nikolić und Dragan Lovrenović sagen, dass Mladic die Hauptperson hinter dieser Operation war, bei der 8.000 Menschen ausgerottet wurden. Ich hoffe sehr, daß General Mladic eingesperrt wird - auch wenn es eine gerechte Strafe für dieses Verbrechen eigentlich gar nicht gibt", so Suljagic.An dem Tag, als Srebrenica gefallen ist und das Blutbad begann, am 11. Juli 1995 ging Suljagic zum letzten Mal zu Fuss vom Stützpunkt des holländischen Bataillons in Potocari, einem Industriegebiet in der Nähe von Srbrenica, in Richtung Zentrum. Er hatte gehört, dass sich "grausame Dinge" dort abspielen. Als er in die Nähe des Zentrums kam, begegnete er eine Gruppe von Soldaten, die zu den Leibwächtern Mladics gehörten. Einer von ihnen fragte Suljagic nach seinem Ausweis.
Er nahm ihm den Übersetzerausweis der Vereinten Nationen ab und reichte ihn herum - bis er schließlich in die Hände des General Mladics gelangte. Suljagic war überzeugt, dass er nicht nur den Ausweis nie wieder sehen würde, sondern dass seine letzte Stunde geschlagen hatte. "Ich weiß nicht, woher ich den Mut hatte, den General zu bitten, mir den Ausweis zurückzugeben", erzählt er. Das Papier bewahrte ihn davor, nicht auch, wie so viele andere, als anonyme Leiche zu enden.