Courage-Preis für türkisch-deutschen Wehrdienstverweigerer
Es sind oft die leisen Menschen, die große Dinge vollbringen. Als Osman Murat Ülke am ersten September 1995 seinen Einberufungsschein zum Militärdienst auf einer Pressekonferenz in der westtürkischen Großstadt Izmir demonstrativ verbrennt, redet er wenig und mit sanfter Stimme. İnnerhalb eines Tages kennt die gesamte Türkei den Vierundzwanzigjährigen mit den langen Haaren als ersten bekennenden Wehrdienstverweigerer des Landes. Er begründet die Anti-Militarismus-Bewegung in der Türkei.
Zwölf Jahre später verleihen die „Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges“ Ülke nun den „Clara-İmmerwahr-Preis” für Zivilcourage. Er wird am 3. März von einem Vertreter Ülkes in Berlin entgegengenommen, da der Preisträger als polizeilich gesuchter Deserteur das Land nicht verlassen darf.
Clara İmmerwahr war eine Chemikerin, die sich mit großem persönlichen Einsatz gegen die Arbeit ihres Ehemannes Fritz Haber stellte. Haber trieb die Entwicklung und Anwendung von Giftgas im Ersten Weltkrieg voran. Clara İmmerwahr versuchte ihn am Einsatz des Gases zu hindern. Am 2. Mai 1915 erschoss sie sich in Berlin mit seiner Dienstwaffe, um Habers Abreise an die Ostfront zu verhindern. Die Auszeichnung wird seit 1991 verliehen, auch wenn fast niemand jemals von İmmerwahr gehört hat. „Fritz-Haber-Institut“, diesen Titel trägt unter anderem eine Forschungsstelle der Max-Planck-Gesellschaft in Berlin.
Seit Osman Murat Ülke den Wehrdienst verweigert, darf er die Türkei nicht verlassen / privat
Der diesjährige Preisträger Osman Murat Ülke lebt seit seinem Bekenntnis zur Kriegsdienstverweigerung in einem Zustand, den der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 2006 als „zivilen Tod“ bezeichnete. Weil es in der Türkei kein Recht auf Wehrdienstverweigerung gibt, wurde Ülke mehrmals auf Grund von Fahnenflucht inhaftiert. Insgesamt verbrachte er 701 Tage in Militärgefängnissen, 24 Tage davon in Einzel- und Dunkelhaft bis er mittels Hungerstreik reguläre Haftbedingungen erwirken konnte. 2006 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die türkische Regierung wegen unverhältnismäßiger Strafverfolgung im Fall Ülke verurteilt. Bisher ohne Folgen: Ülke gilt noch heute als Deserteur und könnte jederzeit verhaftet werden.
Der 36-jährige Familienvater kann keinen Pass beantragen, kein Konto eröffnen und keine Arbeit annehmen, solange er den Wehrdienst verweigert. Die Türkei versucht das Thema so gut es geht auszusitzen. Seit der Staatsgründung begreift sich die Armee als Hüter des Landes. Jeder Mann ab dem 20. Lebensjahr ist so lange wehrpflichtig, bis er einen acht- bis 15-monatigen Grundwehrdienst abgeleistet hat. Es gibt kein Recht auf Verweigerung und auch keinen zivile Alternativdienst wie in Europa.
Mit seiner öffentlichen Verweigerung betritt Ülke politisches Niemandsland. Das für die Überprüfung der Urteile zuständige Ministerkomitee des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte stellte in seiner letzten Sitzung am 13./14. 2007 Februar fest, dass bislang „die türkischen Behörden keine Maßnahmen umgesetzt haben, um die vom Gericht festgestellten Verletzungen zu beenden. Nach wie vor liegt gegen den Antragsteller (Osman Murat Ülke) ein Haftbefehl vor. Dieser Zustand macht ein normales Leben unmöglich.“
Ülke halt sich mit Übersetzungsarbeiten über Wasser. Momentan arbeitet er an der Übersetzung eines Handbuches für Migranteneltern mit türkischen und kurdischen Hintergrund in Deutschland. Er übersetzt aus seiner ersten Sprache, Deutsch, in seine zweite, Türkisch.
Die Verweigerung des Wehrdienstes hat einen traurigen Hintergrund in Osman Murat Ülkes Kindheit. Er wurde 1970 in Ründeroth, Nordrhein-Westfalen geboren. Im Alter von fünfzehn Jahren ist der begabte Schüler bereits politisch engagiert, schreibt für die Schülerzeitung und reiht sich in Friedensdemos ein. Aus Angst, dass sein Sohn sich in der Türkei nicht mehr integrieren kann, beschließt sein Vater ihn auf ein Internat in der Türkei zu schicken. Der Junge kommt auf eine Lehranstalt, in der besonders strenge Regeln gelten. Erst später wird klar, dass es sich um das Pilotprojekt des fundamentalistischen Politikers Fethullah Gülen handelt. Ülke, der anfangs erst Türkischkurse besuchen muss, kommt mit den starren Regeln nicht zurecht. Für ihn ist alles nur „menschenfeindlich“ und bald lebt er mit Selbstmordgedanken. Eine Lehrerin verständigt seine Eltern und rettet ihn damit. „Politisch zu denken und zu leben, hat mich am Leben gehalten. Sonst hätte das Internat mich kaputt gemacht“, sagt er heute. Mittlerweile leben etwa 60 erklärte Wehrdienstverweigerer in der Türkei.