Kleines Land, großes Museum
Vor einem Jahr öffnete das größte Museum des Baltikums, das Kunstmuseum "Kumu" in Estlands Hauptstadt Tallinn
Tallinn (n-ost) - Was haben Stalin und Kaiser Wilhelm, estnische Bauernfrauen und deutschbaltische Adlige, Jesus und eine Möwe gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht viel und doch stehen ihre Köpfe neben Büsten bekannter und unbekannter Bürger einträchtig beieinander, auf gläsernen Säulen und dunklen Sockeln während ihre Stimmen flüsternd von den Wänden schallen. Es sind die Stimmen von Frauen und Männern, still und sanft, harsch und zackig, wild durcheinander und trotzdem vereint zu einem Meer von Stimmen. Benannt ist die Installation jedoch nicht nach einem der vielen ernst blickenden Menschen, sondern nach dem einzigen Tier unter ihnen, der Möwe.Das Ensemble des Bildhauers Villu Jaanisoo, so weiß Sirje Helme, die Leiterin des estnischen Kunstmuseums "Kumu", ist besonders bei ausländischen Besuchern des Hauses beliebt. Vielleicht gerade deshalb, weil sie wie das Museum selber Kunstwerke verschiedener Epochen und Künstler zu einem Ganzen vereint.
Schon seit 1919 gab es in Estland die Idee, ein Museum für nationale Kunst zu eröffnen. Foto: Alexandra Frank
Das wurde auch höchste Zeit. Als das Museum für nationale Kunst in der estnischen Hauptstadt Tallinn (Reval) vor einem Jahr seine Pforten öffnete, hatte seine Sammlung eine Odyssee hinter sich. 1919, als Estland zum ersten Mal unabhängig wurde, entstand die Idee, ein eigenes Haus für die nationale Kunst zu schaffen, doch der Zweite Weltkrieg, die deutsche und später sowjetische Besatzung vereitelten diese Pläne. In Kisten und Kellern, verschiedenen kleinen Museen und Depots warteten die Exponate der estnischen Kunstsammlung darauf, endlich unter einem Dach ausgestellt zu werden. Doch erst 1994, drei Jahre, nachdem das kleine nordbaltische Land erneut unabhängig geworden war, wurden die Pläne konkret. Rasch sprach man sich für den Entwurf des finnischen Architekten Pekka Vapaavuori aus, doch finanzielle Schwierigkeiten, mit denen die junge Republik nach der Loslösung von der Sowjetunion zu kämpfen hatte, zögerten die Erbauung des 55-Millionen-Euro-Baus weitere Jahre hinaus. Erst seit dem Frühjahr 2006 präsentieren sich Gebäude und Kunstsammlung den Besuchern.Das Bauwerk selber ist ein Beispiel der viel gerühmten nordischen Eleganz, sein Zweck ist Ausdruck des wiedererlangten estnischen Nationalbewusstseins, das sich auch den Schattenseiten seiner Geschichte stellt. Die Dauerausstellung zeigt die Entwicklung der estnischen Kunst seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts bis heute. Neben den Gemälden teils unbekannter deutschbaltischer Porträtmaler beherbergt das Museum Exponate der bedeutendsten estnischen Künstler, aber auch Werke des so genannten sozialistischen Realismus der Nachkriegszeit und monumentale Porträts Stalins. Letztere lösen bei den Besuchern durchaus kontroverse Emotionen aus.Touristen interessieren sich, laut Helme, sehr für Kunst aus der stalinistischen Zeit. Viele ältere Esten hingegen würden die monumentalen Bildnisse am Liebsten aus der Sammlung verbannen, da sie sich noch rege an die Schrecken jener Jahre erinnern. "Aber wir können unsere Kunst aus den 1960 bis 80er Jahren ohne diesen Teil der Vergangenheit nicht verstehen", sagt Sirje Helme. "Wir müssen unsere Geschichte akzeptieren und versuchen, sie nicht zu vergessen." Auch ausländischen Besuchern legt sie ans Herz, die ausgestellten Gemälde, Drucke, Skulpturen und Installationen im Zusammenhang mit der Geschichte des Landes zu sehen, die über Jahrhunderte von Fremdherrschern geprägt war.
Das nationale Kunstmuseum Kumu hat auch von innen eine eindrucksvolle Architektur. Foto: Alexandra FrankErst im frühen 19. Jahrhundert, nachdem die Leibeigenschaft im Land offiziell aufgehoben wurde und sich die Esten in der so genannten "Zeit des nationalen Erwachens" auf ihre Kultur besinnen konnten, wurden eigene Stilrichtungen entdeckt. "Man sollte unsere Kunst so nehmen wie sie ist und sie nicht als Replik französischen Modernismus oder anderer Kunstströmungen sehen. Wir hinken der Kunstgeschichte nicht hinterher, wir sind einfach anders", kommentiert Helme die unter Esten sehr beliebten Ausstellungsstücke aus der Zeit der ersten Unabhängigkeit.Nach zwölf Monaten zieht die Museumsleiterin eine durchweg positive Bilanz: Weit über 200.000 Menschen haben das Haus bislang besucht, darunter auch prominente Gäste, wie die englische Königin Elisabeth II. Neben den Dauerexponaten wurden zehn Sonderausstellungen im "Kumu" präsentiert, dieses Jahr werden es 16 sein, darunter eine aus Deutschland zum Thema "Kunst in Berlin 1989-1999".Doch nicht nur die Sammlung selber, auch das Gebäude Vapaavuoris an sich ist einen Besuch wert und nimmt sich behutsam den Bedürfnissen des Museums und den Symbolen des Landes an. "Vapaavuoris Architektur ist zeitlos. Das Hauptmotiv - das Gebäude ist kreisförmig - steht für Kontinuität", erklärt Helme. Vapaavuori benutzte vor allem drei Materialien, die für die Esten sehr wichtig sind: Kalkstein, der Nationalstein, aus dem auch das mittelalterliche Tallinn erbaut wurde, Kupfer, als Analogie zu den Dächern der Kirchen, und Glas, da Licht gerade in nördlichen Ländern eine große Rolle spielt.
"Die runde Form dient dazu, Dinge zu verstecken", erklärt der Architekt Pekka Vapaavuori. "Ich möchte nicht, dass sich meine Bauwerke auf den ersten Blick komplett offenbaren. Sie sollen Überraschungen bergen, sich nach und nach dem Besucher entfalten."Angesiedelt ist das Museum auf einem Kalksteinhang im Tallinner Stadtteil Kadriorg (Katharinental), der vor allem für seine Paläste aus Zarenzeiten, aber auch für die Sängerbühne, die für den estnischen Nationalstolz eine herausragende Rolle spielt, bekannt ist. Das wenige Fußminuten entfernte Schloss Kadriorg ist heute Sitz des estnischen Präsidenten, auf dem Gelände der Sängerbühne findet alle fünf Jahre das Sängerfest - die größte Veranstaltung in Estland - statt. Kein Wunder, dass das neue Museumsgebäude angesichts solch wichtiger nationaler Gebäude nicht zu dominant wirken sollte. Halbkreisförmige Gebäudeteile, ein lichtdurchfluteter Hof und gläserne Fronten bieten einerseits Klarheit, Funktionalität und Übersichtlichkeit, andererseits, so Vapaavuori "öffnet sich das Gebäude seinen Besuchern langsam, je nachdem von welchem Standpunkt aus sie sich nähern."Auch die Installation "Möwe" bietet seinen Betrachtern immer neue Perspektiven und Interpretationsmöglichkeiten. Geht man nahe an einzelne Köpfe heran, kann man die dazu gehörige Stimme, die aus Lautsprechern schallt, heraushören. "Aber ich mag auch die Verschmelzung der Stimmen zu einem Hintergrundgeräusch, so als betrete man eine Bar voller Menschen", erklärt der Bildhauer Villu Jaanisoo. Die Entstehungsgeschichte seines Werkes hat viel mit der Kunstsammlung gemein. "Als ich gebeten wurde, eine Installation aus der Skulptursammlung des Museums zusammenzustellen, habe ich mich in die Keller und Depots begeben und bin in den vielen Kisten immer wieder auf Köpfe und Büsten gestoßen", berichtet er. Jaanisoo begann nachzuforschen, wälzte Bücher, sprach mit älteren Kollegen. Warum, ging ihm immer wieder durch den Kopf, gibt es derart viele Büsten in der estnischen Kunst. "Zu Sowjetzeiten waren Porträts eine politisch relativ ungefährliche Angelegenheit, die dazu für das tägliche Auskommen sorgte", schlussfolgerte er schließlich. "In meiner Installation stehen sie alle gleichberechtigt nebeneinander. Es gibt keine Führer oder Götter und niemand ist wichtiger als der andere." Epochen und Stilrichtungen, herrschende Köpfe und die Bevölkerung, die der wechselnden Geschichte die Stirn bot, alles vereint zu einem sehenswerten Ganzen.
Infoteil:
Kumu, Weizenbergi 34/Valge 1, 10127 Tallinn, Estland. Tel. +372 6449139, Fax +372 6442094, Email muuseum@ekm.ee, www.ekm.ee, geöffnet im Sommer (Mai-Sept.) Di-So 11-18 Uhr, im Winter Mi-So 11-18 Uhr, Eintritt etwa 5 Euro, geschlossen an Feiertagen, deutschsprachige Führungen auf Voranmeldung möglich.*** Ende ***
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